Letzte Woche trafen sich der Chef des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Peter Maurer (65) und Russlands Aussenminister Sergei Lawrow (72) in Moskau. Obwohl es dabei eigentlich nur darum ging, wie die Organisation ihre Hilfsgüter zu den Menschen ins Kriegsgebiet bringen kann, sorgte das Treffen in der Ukraine für mächtig Wirbel. Und das nicht allein, weil die beiden Männer sich lachend die Hände schüttelten – auch der Plan, in der südrussischen Stadt Rostow am Don ein Büro zu eröffnen, stösst in der Ukraine sauer auf.
Wie der «Spiegel» berichtet, wird in den ukrainischen Medien deshalb seit Tagen gegen das IKRK Stimmung gemacht. Die Hilfsorganisation wird sogar beschuldigt, mit Wladimir Putin (69) zu kollaborieren. In sozialen Netzwerken verbreiteten sich Aufrufe, der Organisation keine Gelder mehr zu spenden.
Russland benutze IKRK
Die ukrainische Ministerin für die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete, Iryna Wereschtschuk (42), traf Maurer noch vor seiner Reise nach Moskau in Kiew. Auch sie machte ihrem Ärger gegenüber den Medien Luft. «Wir lehnen es kategorisch ab, dass das IKRK ein Büro in Rostow am Don eröffnet», sagte sie.
Damit wolle Russland seine sogenannten «humanitären Korridore» auf das eigene Territorium legitimieren, dabei würden ukrainische Bürger illegal vom Feind verschleppt werden. Russland benutze dafür das IKRK. Ein aus Mariupol stammender Abgeordneter rief Maurer auf Facebook sogar zum Rücktritt auf, zudem solle das IKRK mindestens bis zum Kriegsende aus der Ukraine verbannt werden.
Keine Belege für Zwangsarbeit
Tatsache ist: Aus vielen der von russischen Streitkräften besetzten Ortschaften waren Ukrainer in Bussen nach Russland gebracht worden. Moskau stellte die Evakuierung dieser Menschen aus dem Kampfgebiet als humanitäre Wohltat dar – in Kiew spricht man hingegen von Verschleppung und Deportation.
Solche Vorwürfe wurden unter anderem von der Stadtverwaltung von Mariupol erhoben. Demnach hätten russische Sicherheitskräfte Bürgern aus der Stadt die Pässe abgenommen. Viele seien anschliessend zur Zwangsarbeit in russische Regionen gebracht worden. Beweise dafür gibt es aber bislang nicht.
«In keine Zwangsevakuierung involviert»
Am Dienstag nahm das IKRK zu den schweren Vorwürfen in einer Medienmitteilung Stellung. «Das IKRK war in keine Zwangsevakuierung oder den erzwungenen Transport von Zivilisten nach Russland involviert, weder aus Mariupol noch aus anderen Orten», heisst es in der Erklärung. «Wir würden niemals eine Operation unterstützen, die sich gegen den Willen der Menschen richtet», stellte die Hilfsorganisation klar und wies die Anschuldigungen zurück. Und: Das IKRK warnte davor, dass die Verbreitung von Falschinformationen ihre Arbeit in der Ukraine gefährde.
Wahr hingegen ist, dass die Hilfsorganisation ein Büro mit Mitarbeitern im russischen Rostow eröffnen will. Von dort aus möchte das IKRK die humanitäre Hilfe für die durch Kämpfe schwer zugänglichen Teile der Ukraine organisieren. Aus dem gleichen Grund habe man auch Teams in Belarus, Ungarn, Moldawien, Polen und Rumänien platziert, heisst es.
500 Tonnen Hilfsgüter
In der Ukraine steht die Hilfsorganisation derzeit mit mehr als 600 Mitarbeitern im Einsatz – über 500 Tonnen Hilfsgüter hat sie nach eigenen Angaben bereits verteilt.
Der Grossteil der Mitarbeiter befindet sich im Osten des Landes, wo die humanitäre Hilfe derzeit am dringendsten benötigt wird. Wie vor einigen Wochen berichtet wurde, ist die Operation in der Ukraine mit einem Budget von umgerechnet fast 267 Millionen Franken umfangreicher als die in Syrien und Afghanistan. (bra)