«90 Prozent der Iraner wünschen sich Freiheit»
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Iranische Regisseurin erklärt:«90 Prozent der Iraner wünschen sich Freiheit»

Exil-Iranerin darf nicht mehr in ihr Heimatland einreisen
«Es tut weh, dass ich meinem Sohn das Land nicht zeigen kann»

Seit 14 Jahren kann Sonia Afsar Shafie nicht mehr in ihre Heimat einreisen. Heute leidet und hofft die Zürcherin aus der Ferne mit ihren Landsleuten mit.
Publiziert: 02.10.2022 um 09:47 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2022 um 11:13 Uhr
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Filmemacherin Sonia Afsar Shafie (54) ist schweizerisch-iranische Doppelbürgerin.
Foto: Thomas Meier
Dana Liechti

2008 war die gebürtige Iranerin Sonia Afsar Shafie zum letzten Mal in ihrem Heimatland. Zwei Jahre zuvor hatte sie in Teheran einen Film über die Frauen in ihrer Familie und deren Lebensgeschichten gedreht. Der Film wurde der Zürcher Filmemacherin zum Verhängnis: Kaum in den Iran eingereist, wurde sie – damals schwanger mit ihrem Sohn – eingeschüchtert, man nahm den iranischen Pass ab, verhörte sie. Eine traumatische Erfahrung für die heute 54-Jährige. Seither ist Shafie nicht mehr in das 80-Millionen-Land gereist.

Die aktuellen Proteste im Iran verfolgt sie trotzdem – oder gerade deswegen – eng mit. Der Fall der 22-jährigen Mahsa Amini erschüttert das Land. Die junge Kurdin war am 13. September von der Sittenpolizei verhaftet worden, weil sie ihr Kopftuch «unangemessen» getragen hatte, und starb kurz darauf aufgrund von Polizeigewalt. Seither protestieren unzählige Iranerinnen und Iraner gegen das islamische Regime im Land – mindestens 83 Personen sind dabei bisher ums Leben gekommen. Als wir Sonia Afsar Shafie in Zürich zum Interview treffen, hat sie kaum geschlafen.

SonntagsBlick: Sonia Afsar Shafie, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus dem Iran sehen?
Sonia Afsar Shafie: Ich fühle Hoffnung, aber auch eine tiefe Trauer, Frustration und Hilflosigkeit. Das Einzige, was ich von hier aus tun kann, ist, den Stimmen meiner Schwestern und Brüder im Iran zu Gehör zu verhelfen.

Was sollten wir wissen?
Iranerinnen und Iraner sind nicht alle konservative Fundamentalisten. Im Gegenteil: 90 Prozent der Menschen streben nach Freiheit und Demokratie, viele sind sehr gebildet, interessiert und informiert. Es gibt keinen Unterschied zwischen jungen Iranern und jungen Schweizern. Sie wollen dasselbe: ausgehen, Freundschaften pflegen, die Welt entdecken und glücklich sein. Nur: Den Iranern ist das nicht erlaubt. Die Machthaber haben eine Art mentales Gefängnis gebaut, das sich Iran nennt. Darin leben mehr als 80 Millionen Menschen.

Die Frauen leiden ganz besonders.
Ja, die Situation der Iranerinnen ist sehr schwierig. Als Frau bist du in diesem System nur dazu da, die sexuellen Bedürfnisse des Mannes zu befriedigen und für die nächste Generation zu sorgen. Wir Iranerinnen kämpfen seit 40 Jahren für unsere Freiheit und für körperliche Autonomie. Seit der Revolution wird uns diktiert, was wir denken, wie wir leben und uns verhalten müssen, mit wem wir zusammen sein dürfen und wie wir uns kleiden müssen. Wir sind nicht gegen den Hidschab, wir möchten einfach nur selbst entscheiden können, was wir tragen und wie wir leben. So, wie das hier in der Schweiz selbstverständlich ist. Es bricht mir das Herz, dass die Menschen im Iran dieses Privileg nicht haben.

Viele von ihnen kämpfen gerade dafür – und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel.
Es ist schrecklich, mit welcher Härte gegen die Protestierenden vorgegangen wird. Aber die Menschen haben genug. Sie wollen das Regime nicht mehr. Vielen ist die Freiheit wichtiger als ihr eigenes Leben.

Unterscheiden sich die aktuellen Proteste von bisherigen?
Ja. Die Protestierenden haben einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Auch religiöse Menschen unterstützen sie. Dass eine junge Frau getötet wurde, weil sie etwas zu viel von ihrem Haar gezeigt hat, geht auch ihnen zu weit. Ausserdem ist es eine neue, stark vernetzte Generation, die jetzt auf die Strassen geht. Meine Generation hatte noch die Hoffnung, dass sich innerhalb des Systems etwas verändern kann, dass es Reformen geben wird. Heute hat man diese Hoffnung nicht mehr. Die einzige Chance auf eine Veränderung ist, auf die Strasse zu gehen.

Glauben Sie, die Proteste können tatsächlich etwas bewirken?
Das ist leider sehr schwierig. Das System wird sich nie ändern. Also müsste das Regime gestürzt werden – und ich glaube nicht, dass das aktuell möglich ist. Aber vielleicht –hoffentlich! – langfristig. Auch wenn die Proteste aktuell etwas kleiner werden, die Menschen machen weiter. Sie ändern nur ihre Taktik.

Inwiefern?
Sie protestieren vor allem nach Einbruch der Nacht, schreien «Nieder mit dem Diktator» von den Dächern, Frauen gehen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit essen.

Damit setzen sie sich grosser Gefahr aus.
Ja. Ein Bekannter hat mir erzählt, dass im Moment sogar Leute verhaftet werden allein für das Posten von Videos. Auch bekannte Filmemacher, Sängerinnen, Künstler und Journalistinnen sind inhaftiert worden. Das macht den Menschen Angst.

Angst haben auch viele Exil-Iraner, die dieser Tage an Protesten in westlichen Ländern teilnehmen.
Ja, sie verstecken ihre Gesichter unter Mützen und hinter Masken, um nicht erkannt zu werden. So wollen sie ihre Familien schützen und sich selbst die Möglichkeit offenhalten, zu einem späteren Zeitpunkt wieder in den Iran einzureisen, ohne sich in Gefahr zu bringen.

Sie selbst haben Ihre Heimat zuletzt vor 14 Jahren besucht.
Die Angst, dass mir etwas passiert und mein Sohn ohne Mutter aufwachsen müsste, ist zu gross. Ich weiss nicht, was die Behörden mit mir machen würden.

Schmerzt es Sie, dass Sie Ihrem Sohn das Land bisher nicht zeigen konnten?
Natürlich, das tut sehr weh. Aber es geht einfach nicht.

Was wünschen Sie sich von der Schweiz im Bezug auf die aktuelle Situation im Iran?
Unterstützung für die Protestierenden. Und der Bund sollte keine Deals mehr mit dem Iran eingehen, solange die Wahrung der Menschenrechte keine absolute Bedingung dafür ist.

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