Wegen des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine Aussetzung von Zwangsrückführungen nach Afghanistan zu erwägen, heisst es in einem am Dienstag an die EU-Staaten versendeten internen Bericht der EU-Missionschefs in Kabul. Gleichzeitig bestätigte die EU-Kommission den Eingang eines Briefes, in dem sich die Innenminister mehrerer EU-Staaten gegen die Aussetzung von Abschiebungen aussprechen. Der Brief liegt der Nachrichtenagentur DPA vor.
Umstrittene Sicherheitslage wegen Taliban
Die militant-islamistischen Taliban nahmen derweil am Dienstag eine weitere kleinere Provinzhauptstadt ein und rückten zunehmend auf die Grossstadt Masar-i-Scharif vor. Dabei werden immer mehr Zivilisten Opfer der sich ausbreitenden Kämpfe.
Abschiebungen nach Afghanistan sind wegen der Sicherheitslage umstritten. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen haben die Taliban grosse Geländegewinne erzielt. Mittlerweile beherrschen sie gut die Hälfte der Bezirke des Landes, mehrere Grenzübergänge und Teile wichtiger Überlandstrassen. Seit Freitag eroberten sie sieben Provinzhauptstädte, darunter die Grossstadt Kundus.
Die Empfehlung der EU-Botschafter in Kabul ist ungewöhnlich. Migrationsfragen liegen eigentlich in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die Missionschefs vor Ort können bestimmte Themen analysieren und hinterfragen, aber nicht in Hauptstadtentscheidungen eingreifen. In Kabul betreiben noch acht EU-Länder Botschaften. Alle Missionschefs haben den Bericht unterzeichnet.
Die sechs Innenminister fordern in ihrem Brief dagegen die EU-Kommission auf, im Dialog mit Afghanistan Rücksendungen von Afghanen weiter voranzubringen. Eine Aussetzung der Abschiebungen würde mehr afghanische Bürger dazu motivieren, in die EU zu migrieren.
Amnesty International fordert Abschiebestopp
In Deutschland hatte sich die Debatte über einen möglichen Abschiebestopp zuletzt verschärft. Anfang August war ein geplanter Abschiebeflug abgesagt worden. Die Bundesregierung hält aber an den Abschiebungen fest. Aus dem Bundesinnenministerium hiess es, der abgesagte Flug solle möglichst bald nachgeholt werden.
Amnesty International und 25 weitere Organisationen forderten am Dienstag von Deutschland einen sofortigen Abschiebestopp. «Auch Deutschland darf die Augen vor der sich immer weiter verschlechternden Lage in Afghanistan nicht verschliessen und muss alle Abschiebungen einstellen», heisst es in einer gemeinsamen Erklärung. «Rechtsstaat heisst, dass menschenrechtliche Prinzipien eingehalten werden. Sie dürfen auch nicht in einem Wahlkampf zur Verhandlung gestellt werden.»
Die Taliban rücken weiter vor
In Afghanistan konnten die Taliban am Dienstag die Provinzhauptstadt Farah der gleichnamigen Provinz im Westen des Landes erobern. Die Islamisten hätten die wichtigsten Regierungseinrichtungen in der Stadt eingenommen, darunter das Polizeihauptquartier, den Gouverneurssitz und das Gefängnis. Die Sicherheitskrfte hätten sich in eine Militärbasis rund vier Kilometer von der Stadt zurückgezogen, hiess es. Farah mit seinen geschätzt 128 000 Einwohnern liegt am Fluss Farah und in eher exponierter Lage mit offener Wüste im Süden.
Die Taliban rücken auch zunehmend auf die Grossstadt Masar-i-Scharif vor. Am Dienstag habe es Gefechte in den Gebieten Langarchana und Pul-e Imam Buchari gegeben, die 15 respektive 20 Kilometer von der Stadt entfernt seien, sagte die Parlamentarierin Saifura Niasi.
Dem Provinzrat Sabiullah Kakar zufolge gehen die Islamisten sehr strategisch vor. Sie hätten in der Nacht zu Dienstag aus einem Bezirk im Umkreis die Stadt mit geschätzt 500 000 Einwohnern angegriffen, um die Sicherheitskräfte abzulenken, und hätten dann versucht, über einen anderen Bezirk weiter vorzurücken. In der Nacht habe man in der Stadt Artilleriefeuer und Luftschläge gehört.
Das indische Konsulat in Masar-i-Scharif rief am Dienstag per Twitter indische Staatsbürger dazu auf, sich für einen Evakuierungsflug zu melden.
Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen
Immer mehr Zivilisten werden Opfer des sich intensivierenden Krieges. Das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) berichtete am Dienstag, seit Anfang August seien in 15 vom IKRK unterstützten Gesundheitseinrichtungen mehr als 4000 durch Waffen verwundete Patienten behandelt worden. Die Zahl sei ein Hinweis auf die Intensität der jüngsten Gewalt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte mit, auf dem Gelände eines Regionalkrankenhauses in der Provinzhauptstadt Lashkargah im Süden des Landes sei am Montag eine Rakete nahe der Notaufnahme eingeschlagen. Dies zeige, wie schwierig aktuell der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Hilfe sei. In einigen Städten wie Laschkargah oder Kundus lägen medizinische Einrichtungen direkt im Kampfgebiet.
Die Nato bewertet den gewaltsamen Taliban-Vormarsch als besorgniserregend. Das hohe Mass an Gewalt der Islamisten bei ihrer Offensive, darunter Angriffe auf Zivilisten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen, sehe man mit «tiefer Sorge». Die Taliban müssten verstehen, dass die internationale Gemeinschaft sie nie anerkennen werde, wenn sie den politischen Prozess verweigerten und das Land mit Gewalt erobern wollten.
(SDA)