Die Taliban sind zurück. Nach dem Rückzug der von den USA angeführten Nato-Truppen haben die Islamisten Afghanistan in kürzester Zeit wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Wie konnte der Westen derart katastrophal versagen? Die Schweizer Ethnologin Micheline Centlivres-Demont (91) forschte ihr halbes Leben im Krisenstaat. Gegenüber Blick erklärt sie, wie es so weit kommen konnte.
Was bleibt Afghanistan nach den letzten 20 Jahren Krieg?
Micheline Centlivres-Demont: Afghanistan ist von den Taliban besetzt. Sie müssen nun eine Regierung bilden. Die Bemühungen der letzten Jahrzehnte werden somit grösstenteils rückgängig gemacht. Ich hoffe jedoch, dass die grossen Fortschritte etwa in der Bildung, im Gesundheitsbereich sowie bei den Strassen und Infrastrukturen Bestand haben.
Die Taliban sind darum bemüht, ihren radikalen Ruf loszuwerden. Glauben Sie ihnen?
Die Generation der Taliban ist nicht die gleiche wie bei der letzten Machtergreifung in den 1990er-Jahren. Afghanistan ist urbaner geworden. Die Menschen haben Handys und können sich im Internet Informationen beschaffen. Es gibt mehr Leute, die gebildet sind. Die Taliban stehen nun vor der Mammutaufgabe, Ordnung im Innern herzustellen. Sie wollen deshalb ihr Ansehen verbessern. Letztendlich geht es ihnen auch darum, von den Nachbarländern als legitime Regierung anerkannt zu werden.
Wie steht es um die Situation der Frauen in Afghanistan?
Das ist die grosse Frage im Moment. Die Taliban regieren mit sogenannten Dekreten. Diese basieren nicht auf einer Verfassung und Gesetzen. Es wird sich zeigen, wie die neue Taliban-Generation dabei im Umgang mit Frauen vorgeht. Ich hoffe, dass das bessere Bildungsniveau Früchte trägt.
Weshalb hat der Westen es nie geschafft, in Afghanistan einen funktionierenden Staat aufzubauen?
Der Westen hat Afghanistan nie verstanden. Die Regierung, auf die sich der Westen verliess, war für die Afghanen nicht glaubwürdig und wurde von ihnen auch nicht respektiert. Sie war im Prinzip nicht mehr als die Regierung der Hauptstadt Kabul. Der Westen hat da einfach massenhaft Geld reingebuttert, aber dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, dass es eine enorme Korruption gab. Überall. In der Regierung, bei der Verwaltung, der Polizei, der Armee. Auf dem Land, in den Tälern und Dörfern herrschten unabhängig davon immer andere Machtstrukturen, die funktionierten.
War die Macht der Zentralregierung also nur eine Illusion des Westens?
Der Westen wollte eine Regierung nach westlichem Vorbild aufbauen, aber das hat mit den Begebenheiten und Bedürfnissen vor Ort nicht übereingestimmt.
Die Taliban haben das ganze Land innert Kürze wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Weshalb hat sich das afghanische Militär nicht dagegen zur Wehr gesetzt?
Das ist ein gutes Beispiel für das Versagen des Westens. Einerseits wurde die afghanische Armee als fremdbestimmt angesehen. Die Taliban auf der anderen Seite sind aus afghanischen Strukturen entstanden. Die Soldaten der afghanischen Armee glaubten selbst nicht an die Zentralregierung und wollten nicht gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen. Zudem hat die afghanische Armee immer übertrieben, was die Zahl der einsatzfähigen Soldaten angeht. Sie bekam dann mehr Geld vom Westen.
Können sich die Afghanen nach Jahrzehnten der Fremdbestimmung überhaupt noch selbst regieren?
Die Frage ist in der Tat, ob sie das noch können. Ich habe mit meinem Mann seit 1962 unzählige Forschungsreisen nach Afghanistan unternommen. Ich habe alle Regierungen seither gekannt. Auch während der Besetzung durch die Sowjetunion, während der letzten Taliban-Herrschaft und während der Besetzung durch das von den USA angeführte Nato-Bündnis war ich dort. Die neuen Taliban habe ich bisher nicht getroffen – 2015 war ich zum letzten Mal dort. Eine Alternative zu den Taliban gibt es im Moment nicht. Die anderen Volksgruppen haben zu wenig Macht. Das gilt auch für die mit den Taliban verfeindeten Terroristen des Islamischen Staats (IS) und von Al Kaida. Man darf nicht vergessen, dass es unter den vielen verschiedenen Volksgruppen zahlreiche Konflikte gibt. Viele Afghanen trauen den Taliban zu, dass sie Ordnung machen können. Das war schon 1996 so, als sie von den Mudschaheddin die Macht übernahmen. Ich war damals in Dschalalabad. Die Taliban wurden von den Bewohnern dort sehnlichst erwartet.
Wie haben Sie Land und Leute in Afghanistan erlebt?
Wir waren immer sehr willkommen. Wir haben alle sozialen Schichten kennengelernt. Meistens haben wir in kleinen Dörfern gelebt. Unser Verhältnis zu den Afghanen war immer von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt.
Wie sehen Sie die Zukunft? Was wünschen Sie den Menschen in Afghanistan?
Obwohl nun die Taliban an der Macht sind, hoffe ich, dass die Bedürfnisse der Afghanen besser verstanden werden. Ich bin gespannt, wie sich die Situation rund um den Opiumanbau entwickelt. Als die Taliban zum letzten Mal an der Macht waren, gingen sie rigoros dagegen vor. Seither haben sie den Opiumhandel leider als Einnahmequelle für die Finanzierung ihrer Operationen entdeckt. Nichtregierungsorganisationen wie das Rote Kreuz und andere werden zum Glück in Afghanistan bleiben. Jedenfalls war das unter der letzten Taliban-Regierung so. Im Bildungs- und Gesundheitsbereich ist sicher weiterhin Hilfe nötig.
Ethnologin Micheline Centlivres-Demont (91) hat Afghanistan seit 1962 unzählige Male bereist. Zusammen mit ihrem Ehemann Pierre Centlivres (88), ehemals Leiter des Instituts für Ethnologie der Universität Neuenburg, gab sie zudem mehrere Bücher heraus. Die Forschungsreisen des Ehepaars wurden unter anderem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Centlivres-Demont doktorierte 1971 an der Universität Neuenburg.
Ethnologin Micheline Centlivres-Demont (91) hat Afghanistan seit 1962 unzählige Male bereist. Zusammen mit ihrem Ehemann Pierre Centlivres (88), ehemals Leiter des Instituts für Ethnologie der Universität Neuenburg, gab sie zudem mehrere Bücher heraus. Die Forschungsreisen des Ehepaars wurden unter anderem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Centlivres-Demont doktorierte 1971 an der Universität Neuenburg.