Darum gehts
Nur drei von vielen Warnungen in den vergangenen Wochen, die aufhorchen lassen: Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel (56) spricht im Interview mit «Bild» vom «letzten Sommer im Frieden», der britische Ex-Nato-Befehlshaber Richard Shirreff (69) warnt vor einem «totalen Krieg» Russlands gegen den Westen, und der dänische Geheimdienst skizziert die Möglichkeit eines russischen «Grossangriffs auf Europa» innert fünf Jahren. Glaubt man den Sicherheitsexperten, wird es langsam ernst für Europa.
Ein mögliches Ziel: Polen. Nato-Chef Mark Rutte (58) warnte Russlands Präsidenten Wladimir Putin (72) am Mittwoch eindringlich vor einem Angriff. Wer denke, dass er Polen oder ein anderes Nato-Mitglied folgenlos angreifen könne, kalkuliere falsch, sagte Rutte gemäss der polnischen Nachrichtenagentur PAP nach einem Treffen mit dem polnischen Regierungschef Donald Tusk (67). Dies müsse «Herrn Wladimir Wladimirowitsch Putin und jedem, der uns angreifen will, klar sein», sagte der Generalsekretär mit Bezug auf den russischen Präsidenten. «Unsere Antwort wird zerstörerisch sein», zitierte die PAP den früheren niederländischen Ministerpräsidenten weiter.
Polen kann sich zwei Wochen lang allein verteidigen
In Polen und den baltischen Ländern an der Ostflanke der Nato gibt es die Befürchtung, dass Russland bei einem Sieg in der Ukraine versuchen könnte, sich ein weiteres Stück vom europäischen Kuchen zu schnappen. Doch man bereitet sich auf die Abwehr vor. «Mit dem heutigen Versorgungsniveau könnte die Verteidigung ein bis zwei Wochen lang aufrechterhalten werden», sagte Dariusz Lukowski (61), der nationale Sicherheitschef Polens, zu Polsat News. Die Aussage bezog sich auf einen Verteidigungszeitraum ohne Unterstützung anderer Nato-Mitgliedsstaaten.
Müssen wir uns in Europa also ernsthafte Sorgen machen? ETH-Militärstratege Marcel Berni ordnet die Warnungen für Blick ein.
«Ich halte diese Gefahr für möglich, bezweifle aber, dass es in diesem Jahr zu einem russischen Angriff auf Polen kommen wird», so der Experte. «Dagegen spricht meines Erachtens, dass die Russen derzeit in der Ukraine absorbiert sind.» Bedeutet: Einen Zwei-Fronten-Krieg kann sich Putin aktuell nicht leisten.
Sollte es allerdings zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommen – oder schlimmer noch, sollten die Russen die gesamte Ukraine einnehmen, würde sich die Lage verändern, glauben viele Sicherheitsexperten. Wo würden die Kreml-Truppen zuschlagen?
Wo könnte Putin zuschlagen?
«Die Nato fürchtet sich vor einem russischen Angriff durch die Suwalki-Lücke zwischen Litauen und Polen», weiss Berni. «Dort könnte ein schockartiger russischer Vorstoss auf die Enklave Kaliningrad das Baltikum von Polen abschneiden und so die Nato teilen.» Die Suwalki-Lücke ist eine rund 100 Kilometer breite Engstelle zwischen Litauen und den übrigen Nato-Partnern. Gleichzeitig ist die russische Exklave Kaliningrad dort am wenigsten weit von Belarus entfernt.
Berni führt weiter aus: «Um eine Schockwirkung zu erzielen, würde Russland in einem ersten Schritt vermutlich Raketen, Drohnen und Artillerie in Verbindung mit elektronischer Kampfführung einsetzen.» Anschliessend könnte ein Vorstoss mit Panzern und Bodentruppen erfolgen.
Kann Russland polnisches Gebiet besetzen?
Ohne Nato-Unterstützung sähe es dann für Polen und Litauen düster aus. Sie sind «auf die Luftverteidigungssysteme, die Panzerabwehr, die Artillerie sowie auf die Luft- und Landstreitkräfte der Nato angewiesen», weiss der Experte. Der Bündnisfall würde ausgerufen werden, und die Nato-Staaten würden ihre Truppen zur kollektiven Verteidigung mobilisieren.
Bei einem russischen Angriff könnte auch eine Rolle spielen, ob das polnische Megamilitärprojekt «Ostschild» an der Grenze zu Kaliningrad und Belarus dann schon fertig ist. Panzer- und Drohnenabwehrstellungen sowie physische Hindernisse wie Betonblöcke sollen ab 2028 die Grenze sichern.
Im Idealfall könnte der Angriff dann abgewehrt werden. Im schlimmsten Fall allerdings droht der Zivilbevölkerung in Polen und im Baltikum «sehr viel Leid, Zerstörung und eine russische Besetzung von eigenem Gebiet», so Berni.