Auf einen Blick
Sufyan Jawad (†46) war ein guter Nachbar. Auf dem Weg zu seiner Arbeit grüsste der Strassenkehrer jeden Morgen die Nachbarn im Flüchtlingslager Al Far’a im palästinensischen Westjordanland. Jeden Abend kehrte er heim zu seiner Frau und den vier kleinen Kindern. «Gestern ist er nicht zurückgekehrt. Und heute Morgen hat er nicht gegrüsst. Am Nachmittag habe ich ihn dann in der Leichenhalle besucht», sagt Jawads Nachbar Nayib* zu Blick. «Ein israelischer Scharfschütze hat ihm grundlos ins Herz geschossen.»
Sufyan Jawad ist einer von mehr als 650 Palästinensern, die seit dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober des vergangenen Jahres von der israelischen Armee im Westjordanland getötet worden sind. Doch während der Krieg zwischen der Terrororganisation Hamas und Israels Soldaten in Gaza täglich für grausige Schlagzeilen sorgt, passiert das Sterben im Westjordanland im Stillen. Jetzt aber ist etwas passiert, das das schlagartig ändern könnte.
Rund drei Millionen Palästinenser leben im Gebiet von der Grösse des Kantons Bern, dazu 500'000 Israelis in völkerrechtswidrigen Siedlungen. Seit der Besetzung des Westjordanlands durch die israelische Armee 1967 kam der Fleck nie zur Ruhe. So heftig wie jetzt aber tobte der Konflikt seit mehr als 20 Jahren nicht mehr.
Der Wahnsinn im Westjordanland
Israel sagt, seine Angriffe richteten sich gezielt auf militante Terroristen. Die palästinensische Seite sagt, Gegengewalt sei nötig, um nicht aus ihrer Heimat vertrieben zu werden. Ein Teufelskreis. Vergangene Woche ist die Situation bei einem palästinensischen Protest gegen eine neue jüdische Siedlung in der Nähe der Ortschaft Beita eskaliert. Ein israelischer Soldat schoss in die Menge und tötete die US-amerikanische Aktivistin Aysenur Eygi (†26).
Der Tod der Amerikanerin sorgte für internationale Empörung. «Absolut inakzeptabel» sei der Vorfall, sagte US-Präsident Joe Biden (81). Sein Aussenminister Antony Blinken (62) warnte Israel, sein Vorgehen im Westjordanland «fundamental zu ändern». Nayib, der Nachbar des ermordeten Sufyan Jawad, sagt: «Die Gewalt hat seither nur zugenommen. Nachts kommen die Israelis mit Bulldozern und Panzerfahrzeugen ins Flüchtlingslager und schiessen. Meine Töchter schreien. Ich kann sie nicht beruhigen. Nur beten, dass die Soldaten ihre Schreie nicht hören und uns nicht finden.»
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Die Organisation Ärzte ohne Grenzen ist mit eigenen Teams vor Ort im Westjordanland und unterstützt Nothelfer und Freiwillige in den Städten Dschenin und Tulkarem. Caroline Willemen koordiniert die Projekte vor Ort. Die Arbeit der Spitäler und der Rettungsteams sei durch die jüngste Gewalteskalation massiv beeinträchtigt, sagt Willemen zu Blick. «Das Wahnsinnige ist: Die Spitäler hier funktionieren einigermassen. Aber die Ambulanzen und die kranken Patienten kommen gar nicht mehr bis zu den Krankenhäusern durch.» Die Zerstörung sei stellenweise riesig, die Präsenz israelischer Militärfahrzeuge vor den Spitaleingängen schrecke viele ab.
Das rätselhafte Verschwinden des «Pferds von Dschenin»
Die Menschen hätten wegen der ständig neuen Angriffe schlichtweg Angst, überhaupt ihre Häuser zu verlassen. «Die Militäroperationen müssen enden, und der ungehinderte Zugang zu medizinischer Versorgung muss so schnell wie möglich wiederhergestellt werden», sagt Willemen.
Für Dschenin, die palästinensische Grossstadt am nördlichen Rand des Westjordanlandes, ist das alles kein Novum. Im April 2002 kamen im dortigen Flüchtlingslager bei einer zehntägigen Schlacht zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Kämpfern 76 Menschen ums Leben. Der deutsche Künstler Thomas Kilpper (68) baute aus den Überresten einer zerstörten Ambulanz damals eine Pferde-Statue zusammen.
Das «Pferd von Dschenin» stand seither auf einem Verkehrskreisel am Rande der Stadt – als Mahnmal, als Erinnerung daran, dass der Krieg die Schwächsten oft am härtesten trifft. Im vergangenen Oktober, kurz nach dem Hamas-Terrorangriff, hat die israelische Armee das Pferd abtransportiert. An die Schrecken des Kriegs muss man die Menschen hier nicht mehr mit Monumenten erinnern. Sie erleben sie täglich am eigenen Leib.
* Name geändert