Die russische Armee ist auf dem Papier klar überlegen. 900'000 Russen gegen 209'000 ukrainische Soldaten. Dazu über 3000 Panzer, 1300 Kampfflugzeuge und fast 6000 Artilleriegeschütze. Auch deswegen hatte Kreml-Chef Wladimir Putin (69) mit einem Blitzsieg gerechnet. Doch der Plan ging nicht auf. Der Krieg dauert schon länger als sechs Wochen an.
Die Russen kommen kaum vorwärts. Besonders die grossen Städte wie Kiew sind hart umkämpft. Putins Truppen haben ein grosses Problem: die Logistik.
De Armee ist offenbar nicht in der Lage, die Übermacht zu nutzen. Denn: Wichtig in einem Krieg ist insbesondere der Transport. Lastwagen bringen so gut wie alles an die Front. Soldaten, Waffen, Ausrüstung.
«Militärlastwagen müssen einmal im Monat bewegt werden»
Alles muss in das Kriegsgebiet gebracht werden. Und genau das klappt bei Putins Armee offenbar nicht. Denn die Lastwagen sind schlecht gewartet oder wurden erst gar nicht überprüft, wie Trent Telenko, ein ehemaliger Qualitätsprüfer von Militärfahrzeugen im US-Verteidigungsministerium, bei CNN erklärt.
Besonders ersichtlich werde der desolate Zustand der Laster, wenn man sich ihre Reifen anschaue. Würden Fahrzeuge nur wenig gefahren, verschlechtere sich ihr Zustand über die Zeit zunehmend. «Militärlastwagen müssen einmal im Monat bewegt werden», so Telenko. Dies, um sicherzustellen, dass alles einwandfrei funktioniert.
Lässt man die Laster über Monate stehen, leiden besonders die Reifen. Und in der Ukraine kommen matschige Strassen dazu. Als Beispiel nennt Telenko einige Bilder eines Panzir-S1-Lasters, der im Schlamm stecken geblieben ist. Da hilft auch kein Milliarden-Budget, das die Russen investieren.
Fokus lag auf modernen Waffen
Durch den Ausfall vieler Militärlastwagen setzt die russische Armee vermehrt zivile Lastwagen ein. «Zivile Lkw entsprechen nicht den Anforderungen des Militärs. Sie sind weder für die Lasten noch für die spezielle Ausrüstung geeignet», sagt Phillips O'Brien, Professor für strategische Studien an der Universität von St. Andrews in Schottland, zu CNN.
Schon die Militär-Laster hätten ihre Mühe. Selbst ohne Probleme mit Reifen oder Schlamm. «Eine einzige Meile in Friedenszeiten ist in Kriegszeiten etwa 10 bis 20 Meilen (16 bis 32 km) lang, weil der Lkw mit grosser Nutzlast stark beansprucht wird», so O'Brien. Dass die Lastwagen der russischen Armee in einem derart schlechten Zustand sind, dürfte laut dem Militär-Historiker daran liegen, dass Putin den Fokus auf moderne Waffen gelegt habe – auch um damit Stärke zu demonstrieren. Das würde sich jetzt rächen.
Soldaten sind nicht richtig ausgebildet
Ein weiteres Problem sei die Wehrpflicht in Russland. Die Soldaten dienen in der Regel ein Jahr. Zu wenig Zeit, um zu lernen, wie Militär-Fahrzeugen vernünftig gewartet werden, erklärt Telenko. Zudem dürften die meisten Wehrpflichtigen nicht voll bei der Sache sein, da sie wüssten, dass nach einem Jahr der Dienst endet. Die Motivation sei deswegen sicher auch ein Problem.
Und die russische Armee besteht laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums knapp zu 50 Prozent aus Wehrpflichtigen. «Wir haben Beweise, sogar aktuelle Beweise, dass sie von diesem Krieg desillusioniert sind, nicht richtig informiert wurden, nicht richtig ausgebildet wurden, nicht bereit waren, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, für das, was sie zu tun hatten», wird ein hochrangiger US-Beamter von CNN zitiert.
Telenko hat auch Korruption im Verdacht. Statt das Geld für neue Reifen und Ersatzteile auszugeben, dürften sich die Offiziere die Taschen vollgestopft haben. Um das Logisitik-Problem in den Griff zu bekommen, müssten die Russen nun Nachschub-Depots errichten.
Doch der Widerstand der Ukrainer ist gross. Viele Regionen sind umkämpft. Keine gute Grundlage, um grosse Lager aufzubauen. Der Experte schätzt die aktuelle Lage für Putins Truppen schlecht ein. Telenko zu CNN. «Ich sehe nicht, wie die Russen ihre derzeitigen Positionen halten können, geschweige denn mit ihrer derzeitigen Lkw-Flotte offensiv vorgehen können». (jmh)