«Die Chinesen werden eine Reaktion zeigen müssen»
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Ex-US-Diplomat in China:«Die Chinesen werden eine Reaktion zeigen müssen»

Er war US-Diplomat in Taiwan, später in China – Robert Wang (70) erklärt, warum er den Besuch befürwortet
«Die Reaktion wird heftig ausfallen»

Über 30 Jahre lang hat Robert Wang für die US-Regierung in Asien gearbeitet, war in Taiwan und China Botschafter in den amerikanischen Vertretungen. Im grossen Interview spricht er über die Gefahr einer militärischen Eskalation und die Rolle der Schweiz.
Publiziert: 03.08.2022 um 10:36 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2022 um 15:39 Uhr
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Robert Wang arbeitete über 30 Jahre lang als hochrangiges Regierungsmitglied der USA in Asien, die meiste Zeit davon in China.
Foto: Allison Shelley/Getty Images for
Interview: Nicola Imfeld

Robert Wang (70) ist gerade in Berlin unterwegs, als Nancy Pelosi (82) am Dienstagabend in Taipeh ankommt. «Ein historischer Moment», sagt Wang im Blick-Interview via Videoschaltung und genehmigt sich einen Schluck Bier in seiner Hotelbar. Der heutige Professor geniesst die Sommerferien, doch seine Vergangenheit holt ihn gerade ein.

Wang war über drei Jahrzehnte lang hochrangiges Mitglied der US-Regierung in Asien. Von 2006 bis 2009 war er stellvertretender US-Botschafter in Taiwan, von 2011 bis 2013 bekleidete er dieselbe Position in China. Kaum ein anderer kennt das Reich der Mitte und dessen Beweggründe besser als Robert Wang. Ein Interview über Taiwan, die Gefahren für die westliche Welt, Chinas Expansionsgelüste in Asien und die Rolle der Schweiz.

Blick: Nancy Pelosi ist in Taiwan – China droht mit dem Militär. Eskaliert der Konflikt jetzt?
Robert Wang:
Die Reaktion wird heftig ausfallen. China will der Welt zeigen, dass es bereit ist, mehr Risiken einzugehen. Ich erwarte eine deutliche Zunahme an Militäraktionen, mehr Kampfjets in den Lüften, weitere Kriegsschiffe in Bewegung. Aber die Chinesen werden sich davor hüten, die rote Linie zu überschreiten. Man ist sich des Risikos bewusst, dass ein kleiner Fehler – ein Unfall – grossen Schaden anrichten könnte.

Eskalation also, aber zum Glück kein Krieg.
Ich erwarte jetzt keine chinesische Invasion in Taiwan. Das würde zu einem grossen Konflikt führen, an dem man in Peking noch kein Interesse hat.

Also glauben Sie an eine Invasion – einfach erst in der Zukunft?
Es ist eine Möglichkeit, aber nicht die wahrscheinlichste. Fakt ist: Das langfristige Ziel von Staatschef Xi Jinping ist die Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland. Er zieht aber die psychologische der militärischen Kriegsführung vor. Mit dieser hatte er bereits in Hongkong Erfolg.

Erklären Sie.
China versucht mit aller Kraft, das Vertrauen in Taiwans Demokratie zu untergraben. Wenn Xi Jinping die Taiwaner überzeugen kann, dass die USA sie nicht unterstützen werden, hat er gewonnen. Dann werden die Menschen keinen Ausweg sehen und einen Kompromiss eingehen. Ganz nach dem Motto: Einen Krieg gewinnt man am besten, indem man ihn nicht führt.

Und was können die Amerikaner tun, damit diese Strategie nicht aufgeht?
Vorweg will ich klarstellen: Die USA unterstützen nicht die rechtliche Unabhängigkeit Taiwans. Vielmehr unterstützen sie das Recht der Menschen in Taiwan, ihre Zukunft in friedlichen Verhandlungen mit China zu bestimmen. In der Zwischenzeit lehnen wir einseitige Zwangsmassnahmen zur Änderung des Status quo ab, und genau das sollten wir Peking gegenüber deutlich machen. Mit Worten und – wenn nötig – mit Taten. Joe Biden hat kürzlich unterstrichen, dass die USA Taiwan im Ernstfall militärisch verteidigen werden. Ein deutliches und wichtiges Signal, das in China gehört wird. Der Besuch von Nancy Pelosi knüpft daran an.

Ihre Stippvisite wird aber harsch kritisiert. Pelosi riskiere für pure Symbolik eine Eskalation – eine gewissenhafte Nutzen-Risiko-Abwägung sehe anders aus.
Ich befürworte den Besuch. Anders als viele meiner Freunde in der US-Regierung und Präsident Biden, der dagegen war. Symbolik sollte man nicht unterschätzen. Pelosi kämpft mit ihrer Reise gegen den psychologischen Krieg Chinas an und bekräftigt das Engagement der USA gegenüber der taiwanischen Bevölkerung. Sie ist eine sehr mutige Frau. Stellen Sie sich einmal vor, sie hätte ihre Reise wegen den Drohgebärden Chinas abgeblasen, so wie es sich Biden offenbar gewünscht hat. Kurzfristig hätte man aufatmen können. Aber langfristig wäre das ein verheerendes Signal gewesen, ja eine Bankrotterklärung. Wir hätten China in die Karten gespielt. Jetzt senden wir ein starkes Signal aus. Gut so!

Gibt es Lehren, die Taiwan aus dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ziehen kann?
Absolut. Die Ausgangslage ist auch erstaunlich ähnlich: Die Ukraine wurde vor der Invasion von russischen Soldaten an der Grenze bedroht, Taiwan wird seit geraumer Zeit von China militärisch ebenso eingeschüchtert. Die Lektion aus der Ukraine für Taiwan lautet, dass man zuerst bereit sein muss, sich selbst zu verteidigen, wenn man will, dass andere einem helfen. Die taiwanische Regierung hat dies erkannt und stärkt die eigene Verteidigung mit Mehrausgaben ans Militär. Die Ukrainer beweisen nämlich gerade, dass man einer Übermacht wie Russland für eine Zeit lang standhalten kann.

Gleichzeitig steht auch China an der Seitenlinie des Ukraine-Kriegs und dürfte seine Schlüsse ziehen. Wie sehen diese aus?
Einerseits, dass der Westen geeinter ist, als man in Peking erwartet hat. Die Nato ist stärker geworden und dürfte mit Finnland und Schweden weiter wachsen. Und andererseits, dass es nicht so einfach ist, sich über den Widerstand der Bevölkerung hinwegzusetzen. Der ukrainische Kampfgeist zeigt den Chinesen gerade eindrücklich, dass eine Invasion in Taiwan schmerzhaft wäre.

Sie haben über 30 Jahre lang in der Region als hochrangiger Vertreter der US-Regierung gearbeitet. Das Ziel war es, China in die liberale Weltordnung zu integrieren. Die Amerikaner sind krachend gescheitert.
Ich habe in all den Jahren viel gelernt, und wir haben tatsächlich nicht immer das Richtige getan. Wir agierten ziemlich schwach, ja risikoscheu. Grundsätzlich wollten wir unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama mit China in einem positiven Sinne zusammenarbeiten. Das hatte zur Folge, dass wir nicht bereit waren, harte Massnahmen zu ergreifen, als China beispielsweise in Hongkong vorgeprescht ist. Im Nachhinein war diese Vorgehensweise wohl ein Fehler.

Sie wissen so gut wie kaum ein anderer, wie es ist, mit den Chinesen am Tisch zu sitzen und zu verhandeln. Was wäre denn jetzt ihre Strategie, wenn Sie Joe Biden beraten würden, um die Beziehungen zu verbessern?
China davon zu überzeugen, dass es die Wiedervereinigung mit Taiwan nicht mit Gewalt erreichen kann. Dass eine militärische Eskalation negative Folgen für die chinesische Wirtschaft und das chinesische Volk haben wird. Sobald China das einsieht, könnte es zu friedlichen Mitteln greifen. Taiwan ist für Peking ein wichtiger Handelspartner, 40 Prozent der taiwanischen Exporte gehen aufs chinesische Festland. Wenn die Menschen in Taiwan beobachten, dass China ein reiches, wohlhabendes Land ist, das sie nicht bedroht, dann würden die Menschen über Zeit vielleicht sagen: China ist ein tolles Land, wir betreiben viel Handel, teilen die Kultur und haben denselben ethnischen Hintergrund – wir kommen zu euch.

Ein netter Gedanke. Aber ...
... klar, die kommunistische Partei müsste sich grundlegend ändern. Es gibt aber auch heute noch Führungskräfte in Peking, die ein freieres und offeneres China wollen. Ich kenne diese Leute! Wenn es uns gelingen würde, sie gänzlich davon zu überzeugen, dass ein offener Konflikt mit Taiwan so schlimme Konsequenzen haben würde, dass sich selbst ihre sturen Parteifreunde nach Alternativen umsehen würden, dann wäre ein Kurswechsel möglich. Meine Botschaft an sie: China kann stark und wohlhabend sein, auch wenn es sich an die internationalen Regeln hält und friedlich ist.

Vom Botschafter zum Dozent

Robert Wang (70) war von 1984 bis 2016 ein hochrangiges Mitglied des US-Aussenministeriums. Er war die meiste Zeit in China stationiert. Unter anderem amtete er von 2011 bis 2013 als stellvertretender Botschafter der amerikanischen Vertretung in Peking. Zuletzt war Wang ein führender Beamter in der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC). Seit sechs Jahren unterrichtet er an der Georgetown University in Washington.

Robert Wang (70) war von 1984 bis 2016 ein hochrangiges Mitglied des US-Aussenministeriums. Er war die meiste Zeit in China stationiert. Unter anderem amtete er von 2011 bis 2013 als stellvertretender Botschafter der amerikanischen Vertretung in Peking. Zuletzt war Wang ein führender Beamter in der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC). Seit sechs Jahren unterrichtet er an der Georgetown University in Washington.

Aber glauben Sie daran, dass Amerika heute noch diese Überzeugungskraft besitzt? Angesichts der zahlreichen eigenen Probleme im Inland?
Leider bin ich in der Tat nicht zuversichtlich. Nicht nur China, auch Länder in Europa sehen uns derzeit nicht als das beste Beispiel an – und das zurecht. Weltweit befinden sich Demokratien in der Krise. Kurzfristig werden wir Peking nicht von unserem System überzeugen können, aber langfristig haben wir keine andere Wahl. Oder wollen wir etwa sagen, wir haben so viele politische Probleme, lasst uns alle aufgeben? Können wir machen, das wäre dann aber auch das Ende vom freien Leben, das wir im Westen so schätzen.

Ist es ein Hoffnungsschimmer, dass in China auch nicht alles reibungsfrei verläuft? Ich denke an die harten Covid-Lockdowns, an die Wirtschaftskrise ...
Peking hält das System, das sie haben, für stabiler und besser als das unsere. Aber es stimmt: Die Null-Covid-Strategie und die staatlichen Massnahmen gegen private Unternehmen haben die Schwächen ihrer Politik jüngst eindrücklich aufgezeigt. Es ist ein Irrglaube, dass es China gut geht. Und wahrscheinlich wissen wir nicht einmal die Hälfte dessen, was im Land vor sich geht. Anders als bei uns dürfen die Medien in China nicht täglich über innenpolitische Probleme berichten.

Was ist eigentlich das ultimative Ziel Chinas – die Expansionsgelüste enden ja nicht in Taiwan, oder?
China will seinen Einfluss in der Region vergrössern. Japan kommt nach Taiwan. Auch Länder wie Vietnam, Malaysia oder die Philippinen sind bedroht. Peking hat dahingehende Gebietsansprüche bereits formuliert. Diese sind ernst zu nehmen. Die unmittelbare Bedrohung spüren also die Menschen in dieser Region. Für Europa ist die Gefahr nicht unmittelbar – China stellt schliesslich keine territorialen Ansprüche auf dem Kontinenten. Ein Mann aus Luzern wird diese Bedrohung also nicht spüren. Trotzdem betrifft es ihn.

Erklären Sie, weshalb.
China will nicht den ganzen Globus erobern. Das Endziel ist Macht, nicht die Weltordnung. Wenn die Welt eine Supermacht hat, die das Völkerrecht ignoriert, schwächt das die internationale Ordnung. Konkret könnte das für ein kleines Land wie die Schweiz Unterdrückung bedeuten, zum Beispiel bei einem wirtschaftlichen Problem. Dann wäre man gezwungen, sich zu fügen. Andernfalls könnten Konsequenzen für Schweizer Firmen in China drohen, was der heimischen Wirtschaft und somit auch dem Mann in Luzern schaden würde.

USA-Kritiker würden erwidern, dass ihr Land die Macht genauso ausgespielt hat und es immer noch tut. Ich denke da beispielsweise an das Bankgeheimnis, das die Schweiz auf Druck Amerikas aufgeben musste. Wo liegt der Unterschied?
Amerika wird seine eigenen Interessen immer schützen. Die Schweiz tut dasselbe. Jedes Land macht das. Anders als Staaten wie China oder Russland halten sich die Vereinigten Staaten aber an internationale Gesetze. Wir führen Dialoge. Ein Beispiel: Als Kanada die Finanzchefin des chinesischen Telekommunikationsausrüsters Huawei verhaftete, sperrten sie in Peking wahllos Kanadier ins Gefängnis. Ohne Grund. Die USA würden niemals einen Briten verhaften aufgrund politischer Verwerfungen. Ich gebe aber zu: Amerika ist nicht perfekt. Aber wäre China als das stärkste Land der Welt die bessere Alternative? In der Schweiz muss man Amerika nicht vertrauen, man muss sich nicht auf uns verlassen. Aber wir sollten – wo immer möglich – zusammenarbeiten, weil wir dieselben Werte haben.

Muss sich die Schweiz als neutrales Land Ihrer Ansicht nach für eine Seite entscheiden, wenn es in Taiwan zur militärischen Eskalation kommt?
Die kurze Antwort: Ja, ihr müsst euch entscheiden. Aber lassen Sie mich ausholen: Wenn wir über die Rivalität zwischen den USA und China allgemein sprechen, dann teilt die Schweiz dieselbe Ausgangslage wie viele andere Länder auf der Welt, beispielsweise Singapur. Da höre ich von meinen Freunden vor Ort, dass sie auf keinen Fall zwischen Amerika und China wählen möchten. Länder wie Singapur und die Schweiz haben ihre eigenen Interessen, beide Staaten sind wirtschaftlich eng mit China verbandelt. Ich kann das Dilemma also verstehen, möchte der Schweiz aber meine persönliche Antwort mit auf den Weg geben.

Bitte.
Kurzfristig kann die Schweiz neutral bleiben, sich auf seine eigenen Interessen berufen und wird kaum Probleme haben. Aber langfristig ist es auch für ein Land wie die Schweiz wichtig, bestimmte Werte zu unterstützen. Was für eine Welt wollen wir für unsere Kinder hinterlassen? Wir müssen nicht weit in die Vergangenheit schauen, da waren Länder wie Deutschland und Japan autoritär, brutal, menschenverachtend. 80 Jahre später sind das wunderschöne Demokratien, die Menschen in Freiheit lebend geniessen können. Wenn wir nun aber nicht langfristig denken, wiederholt sich die Geschichte. Denkt jeder nur an sich selbst, wird die Welt immer weiter von einem Krieg zum nächsten gehen. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein.

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