Auf einen Blick
Ehud Olmert (79) und Nasser al-Kidwa (71) kennen sich erst seit ein paar Monaten persönlich. Trotzdem reisen der ehemalige israelische Ministerpräsident und der ehemalige palästinensische Aussenminister sowie Neffe von Jassir Arafat (1929–2004) gemeinsam durch Europa, um für Frieden im Nahen Osten zu werben. Die ungewöhnlichen Partner versuchen, Verbitterung, Wut und Feindschaft zu überwinden, und sind dabei selbst Freunde geworden. Was sie vorhaben, ist so hoffnungsvoll wie scheinbar aussichtslos: al-Kidwa und Olmert wollen einen Friedensprozess wiederbeleben, an den längst niemand mehr glaubt, erst recht nicht seit den Massakern vom 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg.
Ihr Vorschlag sieht einen sofortigen Waffenstillstand und einen Geiseldeal vor. Das Kernstück ihres Vorschlags ist die Zweistaatenlösung nach den Grenzen von 1967. Israel soll 96 Prozent des besetzten Westjordanlands an die Palästinenser abtreten, ein Landabtausch soll einen Korridor zwischen dem Gazastreifen und der Westbank ermöglichen. Die Altstadt Jerusalems mit ihren heiligen Gebetsstätten soll nicht von Palästina oder Israel, sondern von einer internationalen Treuhandschaft bestehend aus fünf Nationen verwaltet werden.
Herr al-Kidwa, Herr Olmert, Sie haben bereits unzählige Friedenspläne für den Nahen Osten scheitern sehen. Was gibt Ihnen Hoffnung, dass es ausgerechnet jetzt, in einem Mehrfrontenkrieg, gelingen wird?
Nasser al-Kidwa: Der Krieg selbst. All das Blutvergiessen, das Töten, das Leid. Die Menschen werden innehalten und sich fragen, ob das der richtige Weg ist. Im Grunde ist es die schreckliche Situation, die uns etwas Hoffnung auf ein Umdenken gibt – und die uns auffordert, etwas zu tun.
Ehud Olmert: Der Krieg im Gazastreifen hätte längst beendet werden müssen. Nur eine diplomatische Lösung kann das Elend stoppen. Trotzdem spricht niemand über irgendeinen politischen Horizont. Deshalb engagieren wir uns gemeinsam, mit unserem Vorschlag wollen wir das ändern.
Ehud Olmert (79) war von 2006 bis 2009 Ministerpräsident von Israel. Zuvor war er zehn Jahre lang Bürgermeister von Jerusalem. Olmert hatte 2008 den letzten substanziellen Friedensplan ausgearbeitet und der palästinensischen Regierung im Westjordanland unterbreitet. Der Plan sah eine mehrheitliche Auflösung der israelischen Siedlungen in der Westbank sowie neue Grenzen zwischen Israel und den Palästinensergebieten vor, scheiterte aber an palästinensischen und israelischen Widerständen.
Ehud Olmert (79) war von 2006 bis 2009 Ministerpräsident von Israel. Zuvor war er zehn Jahre lang Bürgermeister von Jerusalem. Olmert hatte 2008 den letzten substanziellen Friedensplan ausgearbeitet und der palästinensischen Regierung im Westjordanland unterbreitet. Der Plan sah eine mehrheitliche Auflösung der israelischen Siedlungen in der Westbank sowie neue Grenzen zwischen Israel und den Palästinensergebieten vor, scheiterte aber an palästinensischen und israelischen Widerständen.
Die gemeinsame Erfahrung von Leid und Verlust könnte also ein Weg zur Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis sein?
al-Kidwa: Wenn das Leiden zunimmt, bis es unerträglich wird, braucht es eine Alternative. Die Menschen im Nahen Osten müssen sich entweder für die ewigen Kriege und das endlose Leid entscheiden oder für den Weg des Dialogs, der Versöhnung und der friedlichen Koexistenz in zwei benachbarten Staaten.
Olmert: Aus Schmerz kann manchmal Hoffnung erwachsen.
Doch sind Ihre Friedenspläne realistisch? Die Zeichen stehen vielmehr auf Eskalation.
Olmert: Manchmal geschehen Dinge nicht, weil sie akzeptabel, möglich oder offensichtlich erscheinen, sondern weil es keine Alternative gibt. Hätten Sie 2004 jemandem gesagt, dass der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon alle israelischen Siedlungen im Gazastreifen auflösen wird, hätte man Sie für verrückt erklärt. Aber er hat es getan. Als 1977 Menachem Begin Premierminister wurde, glaubte niemand, dass er die israelischen Truppen aus dem gesamten Sinai abziehen würde. Aber er hat es getan.
al-Kidwa: Eine Lösung ist nur mit neuen Führungspersonen möglich. Unter Netanyahu wird es keine wesentlichen Fortschritte geben. Dasselbe gilt für die Palästinenser unter Präsident Mahmud Abbas.
Nasser al-Kidwa (71) ist der Neffe des früheren Palästinenserführers Jassir Arafat (1929–2004). al-Kidwa trat erstmals als Studentenführer in der Fatah-Partei in Erscheinung und stieg zum Aussenminister und Uno-Botschafter der Palästinensischen Autonomiebehörde auf. 2021 wurde er aus der Fatah ausgeschlossen, weil er sich gegen Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas (88) stellte. Seither lebt al-Kidwa im Exil in Frankreich, gilt aber weiterhin als einer der bestvernetzten palästinensischen Politiker.
Nasser al-Kidwa (71) ist der Neffe des früheren Palästinenserführers Jassir Arafat (1929–2004). al-Kidwa trat erstmals als Studentenführer in der Fatah-Partei in Erscheinung und stieg zum Aussenminister und Uno-Botschafter der Palästinensischen Autonomiebehörde auf. 2021 wurde er aus der Fatah ausgeschlossen, weil er sich gegen Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas (88) stellte. Seither lebt al-Kidwa im Exil in Frankreich, gilt aber weiterhin als einer der bestvernetzten palästinensischen Politiker.
Sie, Herr Olmert, haben die israelische Bevölkerung diese Woche nach der Entlassung von Yoav Gallant zu zivilem Ungehorsam aufgerufen.
Olmert: Die Entlassung des Verteidigungsministers mitten im Krieg war nur ein Fehltritt von vielen. Netanyahu verhält sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Er ist bereit, alles zu zerstören, um die grundlegenden demokratischen Werte des Staats Israel umzustossen. Deshalb gehen Tausende gegen die Entlassung von Gallant auf die Strasse. Wir müssen jetzt gegen die Regierung noch einen Schritt weiter gehen als bisher.
Wollen Sie Netanyahu stürzen?
Olmert: Sehr sogar. Mit allen Mitteln des demokratischen Systems. Ein grosser, massiver öffentlicher Protest wird wahrscheinlich dazu führen. Deshalb habe ich zum zivilen Ungehorsam aufgerufen.
Vor einigen Tagen haben Sie gesagt, dass Netanyahu der wahre Feind Israels sei. Sie halten die eigene Regierung für gefährlicher als den Iran, die Hisbollah, die Hamas?
Olmert: Die Hamas ist ein Feind. Die Hisbollah ist ein Feind. Der Iran ist ein Feind. Sie alle sind Feinde. Doch die Gefahr für Israel geht von der israelischen Regierung aus, die dem Staat und dem israelischen Volk den Krieg erklärt hat. Das Erreichen der Kriegsziele wird als Grund für das Fortsetzen der Militäroperationen vorgeschoben, dabei geht es Netanyahu längst um sein eigenes politisches Überleben. Dafür lässt er den extremen Gruppen, die Palästinenser deportieren und besetzte Gebiete annektieren wollen, freie Hand, weil er in der Regierung von ihnen abhängig ist.
al-Kidwa: Auf beiden Seiten ist eine neue Führung dringend nötig. Aber zum Schluss hängt das Gelingen einer Friedensinitiative von der Unterstützung der breiten Öffentlichkeit ab.
Und hier laufen Sie auf: Bei Israelis und Palästinensern kommt Ihre Forderung nach einer Zweistaatenlösung mitten im Krieg nicht gut an. Wie wollen Sie die Bevölkerung überzeugen?
al-Kidwa: Jeder muss verstehen, dass wir keine andere Wahl haben als eine Zweistaatenlösung, wenn das Bekriegen endlich aufhören soll. Darauf arbeiten wir hin.
Olmert: Wir beide haben zwar kein Amt mehr inne, aber wir sind gut vernetzt, unsere Stimmen werden gehört. Wir müssen auf eine diplomatische Lösung drängen, dafür sorgen, dass darüber gesprochen wird. Eine Lösung des Konflikts ist heute viel realistischer, als die meisten glauben. Frieden zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und anderen arabischen Ländern schien über Jahrzehnte illusorisch. Trotzdem wurde er 2020 geschlossen.
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Die Annäherung hatte damals die US-Regierung unter Donald Trump vermittelt. Jetzt zieht Trump ein zweites Mal ins Weisse Haus ein. Wie wird das den Krieg in Nahost verändern?
Olmert: Trump hat in seiner ersten Präsidentschaft bereits 2020 von einem Zweistaatenplan gesprochen. Die Frage ist, ob er daran festhält. Wichtig wird sein, wie es mit der militärischen Hilfe Amerikas weitergeht. Joe Biden hat zwei Flugzeugträger, Atom-U-Boote, Soldaten, Raketen und Luftverteidigungssysteme in den Nahen Osten gebracht, um Israel zu verteidigen, und wäre bereit gewesen, notfalls in einen Krieg gegen den Iran verwickelt zu werden. Trump hingegen will sich aus Konflikten heraushalten. Das könnte Israel in Schwierigkeiten bringen.
Sie haben sich erst vor wenigen Monaten persönlich kennengelernt. Wie haben Sie zueinandergefunden?
Olmert: Dritte haben den Kontakt zwischen uns hergestellt. Wir begannen zu telefonieren und merkten schnell, dass wir uns in vielen Punkten einig sind. Also wollten wir in diesen schweren Zeiten ein Leuchtfeuer der Hoffnung entfachen.
al-Kidwa: Wir sind beide keine linken Ideologen, keine klassischen Friedensstifter. Uns geht es darum, den nationalen Interessen unseres jeweiligen Volks zu dienen.
Sind Sie Verbündete in der Sache oder würden Sie sich als Freunde bezeichnen?
Olmert: In erster Linie sind wir Partner. Aber wir sind auch Freunde geworden. Je besser ich Nasser kennenlerne, desto mehr mag ich ihn.
al-Kidwa: Wir vertrauen uns gegenseitig. Ehud ist ein anständiger Mann. Ein Mann mit Würde und einer, der andere Menschen respektiert.
Glauben Sie, dass verbitterte Feinde Freunde werden können?
Olmert: Ja. Das Bild, das dieser Krieg von der Beziehung zwischen Palästinensern und Israelis zeigt, ist nicht vollständig. Es gab, gibt und wird persönliche, intime Beziehungen zwischen Palästinensern und Israelis geben. Das hat sich auf tragische Weise auch am 7. Oktober gezeigt: Die Hamas-Terroristen haben Menschen massakriert, die als Freiwillige palästinensische Patienten aus dem Gazastreifen in israelische Spitäler und wieder zurückgefahren hatten.
al-Kidwa: Die Menschen sind auf beiden Seiten sehr betroffen, sie sind wütend. Es könnte einige Zeit dauern, bis das Vertrauen wiederhergestellt ist. Aber das ist in Ordnung. Unsere Absicht ist nicht, Liebe und Frieden zu stiften. Wir setzen uns für gegenseitigen Respekt und die Idee der Koexistenz ein.
Friedliche Koexistenz basiert aber auch auf Vergebung. Papst Franziskus hat Ihnen beiden kürzlich eine Audienz gewährt. Haben Sie mit ihm auch über Versöhnung gesprochen?
al-Kidwa: Es war eine Ehre, von Ihrer Heiligkeit empfangen zu werden. Und wenn man eine Audienz beim Papst hat, hört man mehr zu, als dass man redet (lacht). Wir haben unseren Vorschlag präsentiert. Der Papst war sehr interessiert an der Situation im Nahen Osten und an der Notwendigkeit, den Krieg zu beenden. Er erzählte uns, dass er fast täglich in Kontakt mit Menschen im Gazastreifen stehe.
Olmert: Der Versuch der Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis war die Grundlage unseres Treffens. Der Papst hat uns seinen Schmerz über die Situation und seinen Wunsch, dass sich die Dinge ändern, mitgeteilt. Es ist aufregend, wenn der Papst, ein Mann von seiner Grösse, seiner Macht, bereit ist, sich mitten im Krieg mit zwei Rentnern aus dem Nahen Osten zusammenzusetzen. Das Treffen war sehr ermutigend.
Um für Ihren Friedensvorschlag zu werben, touren Sie derzeit durch Europa. Haben Sie mit dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis gesprochen?
al-Kidwa: Leider noch nicht. Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz haben in der Vergangenheit bei der Einhaltung der Genfer Konvention eine wichtige Rolle gespielt. Zuletzt kam das beim Krieg im Gazastreifen leider weniger zum Tragen.
Olmert: Für mich war die Schweiz immer ein Symbol der Stabilität und der Aufgeschlossenheit. In Anbetracht des Stellenwerts der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft wird es für uns sehr wichtig sein, mit dem Schweizer Aussenminister zusammenzutreffen. Ich hoffe, dass es bald klappt.