Es war eine eindringliche Warnung, die der UNO-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, heute an die Weltgesellschaft richtete. Bis Weihnachten drohe dem Ostteil von Aleppo vollständige Zerstörung. Tausende weitere Zivilisten würden umkommen und Tausende zu fliehen versuchen, wenn Syriens von Russland unterstützte Luftwaffe ihre Angriffe in den nächsten Wochen ungehindert fortsetze.
Das nordsyrische Aleppo - vor dem Krieg die Wirtschaftsmetropole und mit gegen drei Millionen Einwohnern knapp vor Damaskus die grösste Stadt des Landes - gehört zu den umkämpftesten Gebieten im syrischen Bürgerkrieg.
Anhänger des Regimes kontrollieren den Westen Aleppos, Rebellen den Osten. Dieser Teil der Stadt hatte in den vergangenen zwei Wochen, nach Ende eines einwöchigen Waffenstillstands, die heftigsten Angriffe der syrischen und russischen Luftwaffe seit Ausbruch des Konfliktes im Frühjahr 2011 erlebt.
Rund ein Drittel der Eingeschlossenen sind Kinder
Die Welt habe die moralische Pflicht, die humanitäre Tragödie zu beenden, die sich in Aleppo abspiele, sagte de Mistura. Allein in den vergangenen Tagen seien durch die anhaltenden Bombardierungen in Ost-Aleppo mehr als 300 Menschen, rund ein Drittel davon Kinder, getötet worden.
Russland und Syrien müssten sich die Frage gefallen lassen, ob sie tatsächlich wegen noch rund 900 bis 1000 Al-Nusra-Kämpfern in Ost-Aleppo ein Stadtgebiet mit 275'000 Einwohnern völlig in Schutt und Asche legen wollten, unter ihnen rund 100'000 Kinder, sagte de Mistura.
Heute Abend beantragte Russland für morgen eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates. Wie Diplomaten sagten, soll de Mistura bei der Sitzung per Videoschaltung über die Lage in Aleppo berichten.
UNO-Gesandter mit ungewöhnlichem Angebot
De Mistura widersprach russischen Angaben, wonach die Hälfte der rund 8000 in Ost-Aleppo eingeschlossenen Aufständischen zu der Al-Kaida nahestehenden Al-Nusra-Front gehöre, die sich inzwischen Fatah-al-Scham-Front nennt. Zugleich rief er alle Konfliktparteien auf, die Tragödie zu beenden, indem den Al-Nusra-Anhängern der Abzug ermöglicht werde. Er wäre bereit, sie dabei persönlich zu begleiten.
Die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte heute Morgen, Aleppo habe die ruhigste Nacht seit dem Scheitern der Waffenruhe im vergangenen Monat erlebt. Die heftigen Kämpfe zwischen Regime-Anhängern und Rebellen gingen jedoch weiter.
Nach Angaben der in Grossbritannien ansässigen Beobachtungsstelle rückten die Regierungstruppen am Mittwoch vom Stadtzentrum von Aleppo in das nördliche Viertel Bustan al-Bascha vor, das seit 2013 von Rebellen kontrolliert wird.
Russisches Kriegsschiff nimmt Kurs Richtung Mittelmeer
Die syrischen Truppen können nach den Worten von Präsident Baschar al-Assad das Land vollständig zurückerobern. In einem Interview mit dem dänischen Sender TV 2 sagte Assad, er bevorzuge jedoch Vereinbarungen vor Ort und Amnestien, die es Rebellen erlaubten, in andere Regionen zu ziehen. Die syrische Armee wird von schiitischen Milizen aus dem Libanon und dem Irak sowie von Russland unterstützt.
Russland verstärkt unterdessen seine militärische Präsenz in der Region. Ein mit Marschflugkörpern bewaffnetes russisches Kriegsschiff lief aus seinem Heimathafen Sewastopol im Schwarzen Meer in Richtung Mittelmeer aus. Dort werde die Korvette «Mirasch» zu einer Gruppe weiterer russischer Kriegsschiffe stossen, meldeten Nachrichtenagenturen unter Berufung auf einen Flottensprecher.
Neue diplomatische Bemühungen
US-Aussenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow hatten zuvor trotz des Abbruchs ihrer Syrien-Gespräche miteinander telefoniert und dabei auch über das Bürgerkriegsland gesprochen, wie ein Sprecher des Aussenministeriums in Washington sagte. Aus Moskau verlautete, Russland wolle den Dialog mit den USA fortsetzen.
Auch der französische Aussenminister Jean-Marc Ayrault trieb die diplomatischen Bemühungen voran: Er besuchte am Donnerstag Moskau und wurde am Freitag in Washington erwartet, um für einen französischen Resolutionsentwurf im UNO-Sicherheitsrat zu Syrien zu werben.
Wie Lawrow mitteilte, reist der russische Präsident Wladimir Putin zudem am 19. Oktober nach Frankreich. Bei einem Treffen mit Präsident François Hollande werde es auch um den Syrien-Konflikt gehen. (SDA)