Die stille Essstörung ARFID
Wenn das Kind plötzlich schnäderfrässig ist

Es gibt Kinder, die nur bestimmte Lebensmittel essen. Was auf den ersten Blick schnäderfräsig wirkt, könnte aber auch eine wenig bekannte Essstörung sein. Das musst du dazu wissen.
Publiziert: 04.07.2024 um 10:26 Uhr
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Plötzlich schmeckt es nicht mehr. Diese Situation kennen viele Eltern. (Symbolbild)
Foto: imago/Westend61
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Johannes HilligRedaktor News

Erst ist die Welt der Lebensmittel aufregend und toll. Doch dann wird es zum Kampf. Plötzlich will das Kind nur noch Nudeln mit Ketchup. Gemüse? Fehlanzeige! Diese Phase erleben viele Eltern. Bei Hannah (8) aus den USA ist das aber keine Phase, sondern eine Essstörung. Sie leidet unter ARFID. Die Abkürzung steht für Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder. Auf Deutsch: Vermeidende/restriktive Nahrungsaufnahme-Störung.

Das kleine Mädchen hat vor vielen Lebensmitteln Angst. Manchmal ist es der Geschmack, der Geruch oder die Konsistenz. Inzwischen macht Hannah eine Therapie. Mit Erfolg. Ihren Weg zu einem normalen Essverhalten dokumentiert sie, gemeinsam mit ihrer Mutter, auf den sozialen Medien. Mittlerweile hat der Instagram-Kanal 1,6 Millionen Follower. Hannah und ihre Mutter wollen auf die Essstörung aufmerksam machen. Denn bislang ist ARFID wenig bekannt.

Kein Wunder: Die Diagnose ist neu und wurde erst 2013 in die fünfte Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) aufgenommen. Das DSM ist das Handbuch für Mediziner, das als massgeblicher Leitfaden für die Diagnose psychischer Störungen gilt.

Es kann zu einer Mangelernährung und Wachstumsstörung kommen

Wie viele Menschen darunter leiden, ist unklar. Schätzungen gehen weltweit von 0,5 bis 5 Prozent aus. «Ich würde es als die stille Essstörung bezeichnen, weil sie sehr verbreitet ist, aber am wenigsten erforscht wird und am wenigsten darüber gesprochen wird», sagt Stuart Murray, Professor für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften an der University of Southern California, zu CNN. 

Im Gegensatz zu Essstörungen wie Anorexie (Magersucht) oder Bulimia nervosa (Bulimie) geht es bei dieser Diagnose nicht um die Körperform oder -grösse. Dabei geht es nicht allein darum, dass die Patienten eben «wählerisch» sind. Es kann zu einer Mangelernährung und Wachstumsstörung kommen. Zudem leiden Betroffene auch psychisch. Sie können zum Beispiel nicht einfach mit Freunden ins Restaurant. 

Viele Kinder sind wählerisch

In einigen Fällen haben Menschen mit ARFID ein traumatisches Erlebnis mit Lebensmitteln gehabt, wie zum Beispiel ein Erstickungsanfall, was zu einer grösseren Wachsamkeit beim Essen führt, so Murray. In anderen Fällen scheinen Menschen mit dieser Erkrankung ein geringes Verlangen zu haben, zu essen, und sind sehr ängstlich, wenn es ums Essen geht.

Viele Kinder sind wählerisch und versuchen, sich vor dem Verzehr von Gemüse oder anderen Lebensmitteln zu drücken, aber das ist nicht dasselbe wie ARFID. Eine Möglichkeit, den Unterschied zu erkennen, ist das Ausmass der Beeinträchtigung und die Angst, die mit der Konfrontation mit einem neuen Lebensmittel einhergeht, erklärt der Psychiatrie-Professor.

«Ein wählerischer Esser ist vielleicht in der Lage, um ein bestimmtes Lebensmittel herum zu essen, oder er kann ein wenig davon essen. Jemand mit ARFID kann möglicherweise nichts auf dem Teller essen, wenn ein Lebensmittel auf dem Teller ist, das als inakzeptabel gilt.» Und: Betroffene essen nicht nur ein, zwei Dinge nicht, sondern haben eine lange Liste. In der Regel essen sie nur eine Handvoll Lebensmittel. 

Hannah probiert verschiedene Lebensmittel aus

Die Krankheit beginnt oft in der Kindheit, aber ARFID kann Menschen jeden Alters betreffen, so Murray. Wichtig: Wenn es Anzeichen gibt, sollen Eltern dies unbedingt abklären. Denn ARFID ist etwas, aus dem Kinder nicht einfach herauswachsen. Die Forscher sind zwar erst daran, die Störung zu analysieren. Bis jetzt hat eine Verhaltenstherapie gute Erfolgsaussichten. 

Eine Therapie für ARFID beinhaltet in der Regel einen geführten Umgang mit Lebensmitteln, sodass man die Assoziationen zu diesen Lebensmitteln neu erlernen kann und sie schliesslich nicht mehr meidet. Das ist bei Hannah der Fall. Mittlerweile probiert sie verschiedene Lebensmittel und wird immer mutiger und neugieriger. Sie kann ohne Probleme schon elf Lebensmittel essen – vor Beginn der Therapie waren es nur fünf – darunter eine spezielle Geschmacksrichtung der Chipsmarke Pringles. 

Auch in der Schweiz ist die Störung bekannt. So behandelt der Artikel «ARFID: Mehr als nur wählerisch beim Essen», erschienen 2020 in der Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin, die Thematik. Darin heisst es: «Menschen mit ARFID müssen oft 50 Mal ein Lebensmittel probieren, bis es nicht mehr als ungewohnt empfunden wird.»

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