In der Ost- und Südukraine können die ukrainischen Streitkräfte erhebliche Fortschritte machen. Die Taktik der Ukrainer hat sich deutlich verändert. Nun erklärt der ukrainische Militärfachmann Oleh Schdanow (56) gegenüber dem «Spiegel» erstmals, wie genau an der Front vorgegangen wird.
Er sagt: «Schwache Abschnitte in der russischen Verteidigung werden identifiziert, dann ein schneller Durchbruch herbeigeführt, kleine hochmobile Angriffsgruppen stossen hindurch.» Jene Streitkräfte, die durchgebrochen sind, kämpfen nicht sofort.
So gehen die ukrainischen Soldaten vor
«Sie umfahren zunächst die russischen Positionen. Sie attackieren nicht frontal, sondern von den Seiten und sogar von hinten. So entsteht Panik unter den russischen Soldaten, weil sie nicht verstehen, von wo sie angegriffen werden, nicht wissen, ob sie bereits umzingelt sind», präzisiert der Experte das Vorgehen.
Wegen des daraus resultierenden Chaos ziehen sich die Russen zurück «oder treten sogar ungeordnet die Flucht an.» Angewendet wurde diese Taktik laut Schdanow zuletzt bei der Offensive in Charkiw, dann auch bei der Befreiung von Lyman.
Der Experte erklärt, dass die Ukraine von mehreren Seiten zuschlagen, sich dann wieder zurückziehen. Er sagt: «Gleichzeitig geht schwere Artillerie auf sie nieder. Die Russen geraten in Panik.»
Darum wird die Taktik erst jetzt angewandt
Die Taktik werde erst jetzt, fast sieben Monate nach Kriegsbeginn, angewendet, weil sie zunächst geschult wurde. Die Umsetzung sei erst jetzt möglich, «weil wir im Sommer erst mal darauf gewartet haben, dass unsere Soldaten von Lehrgängen im Ausland zurückkehren. Tausende Kämpfer wurden in Grossbritannien und andernorts in den vergangenen Monaten in Nato-Taktiken unterwiesen.»
Wegen der neuen, westlichen Waffen sei diese Art der Kriegsführung erst möglich. Zu Beginn des Krieges habe man dies nicht umsetzen können. Die Methode, die die Ukrainer anwenden, wurde in ähnlicher Form zwischen 1917 und 1921 während des russischen Bürgerkriegs angewendet. Schdanow sagt: «Die ukrainischen Offensivaktionen erinnern an die Taktik von Nestor Machno.»
Er war ein ukrainischer Anarchist, Anführer der nach ihm benannten Volksbewegung Machnowschtschina, der es zeitweise gelang, während des Bürgerkriegs einen Teil der Ukraine zu kontrollieren. (euc)