«Putin ist jetzt noch viel aggressiver und antiamerikanischer»
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Kreml-Kennerin Angela Stent:«Putin ist noch viel aggressiver geworden»

Die renommierteste Putin-Kennerin Angela Stent
«Er ist furchtloser geworden»

Angela Stent befürchtet, dass der Krieg in der Ukraine nicht einfach irgendwann vorbei ist – und dass er sich auch auf Polen oder andere Länder ausweiten könnte.
Publiziert: 03.04.2022 um 00:48 Uhr
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Aktualisiert: 03.04.2022 um 16:19 Uhr
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Die gebürtige Britin Angela Stent leitet das Zentrum für Osteuropastudien an der Georgetown Universität in Washington, D.C.
Foto: zVg
Interview: Fabienne Kinzelmann

Nur wenige westliche Experten haben den russischen Staatschef so oft getroffen wie Angela Stent. Als Nachrichtenoffizierin, für den US-Aussenminister und als Wissenschaftlerin hat sie seinen Weg eng verfolgt. Im Interview mit SonntagsBlick erklärt die Kreml-Kennerin Putins Welt und seine Ziele.

Professor Stent, was geht gerade in Putins Kopf vor sich?
Angela Stent: Die Besorgnis über den Zusammenbruch der Sowjetunion und über die Russen, die danach ausserhalb Russlands verblieben sind. Die Vorstellung, dass die Ukrainer sich nicht von den Russen unterscheiden. Das hat er im Laufe der Jahre auch immer wieder geäussert.

Sie haben Putin mindestens 15-mal persönlich getroffen. Wie hat er sich über die Jahre verändert?
Putin ist viel aggressiver antiamerikanisch geworden. Die Konferenz, die ich seit vielen Jahren besuche, war anfangs ein kleiner, intimer Kreis mit mehrheitlich Amerikanern und Europäern. Heute ist sie viel grösser, und es sind viel mehr Chinesen und andere autoritäre Nationen. Bei Putins Rede dort letztes Jahr, bei der ich wegen der Pandemie nur zugeschaltet war, hat er die USA wegen ihrer politischen Korrektheit angegriffen, wegen des Umgangs mit LGBTQ, vermeintlich «positiver Diskriminierung», dem Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus etwa an Universitäten. Er sieht Russland als Verteidiger konservativer Werte.

Zur Person: Angela Stent

Angela Stent (75) ist die renommierteste Putin-Kennerin der USA und Autorin des mehrfach ausgezeichneten Buchs «Putin’s World» (2019). Die Professorin leitet das Zentrum für Eurasien, Russland und Osteuropa der Georgetown Universität in Washington, D.C. Zuvor war sie Nachrichtenoffizierin und arbeitete für das US-Aussenministerium. Im Rahmen der seit 2004 jährlich stattfindenden Tagung «Waldai» traf sie den russischen Präsidenten häufig persönlich – zuletzt kurz vor Pandemie-Beginn.

Angela Stent (75) ist die renommierteste Putin-Kennerin der USA und Autorin des mehrfach ausgezeichneten Buchs «Putin’s World» (2019). Die Professorin leitet das Zentrum für Eurasien, Russland und Osteuropa der Georgetown Universität in Washington, D.C. Zuvor war sie Nachrichtenoffizierin und arbeitete für das US-Aussenministerium. Im Rahmen der seit 2004 jährlich stattfindenden Tagung «Waldai» traf sie den russischen Präsidenten häufig persönlich – zuletzt kurz vor Pandemie-Beginn.

Und das war nie anders, wie viele im Westen gerne glauben wollten?
Nein, diese Ressentiments hat er immer gehegt. In den Jahren 2001, 2002 sah es kurz so aus, als ob sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland und zum Westen verbessern könnten – wenn man an die Rede denkt, die er damals im Deutschen Bundestag hielt, und an die Unterstützung für die Vereinigten Staaten nach dem 11. September. Aber seine Ansichten haben sich danach nicht geändert. Und je älter er wird und je mehr er darüber nachdenkt, wie lange er noch im Amt ist, desto entschlossener ist er – wie wir jetzt bei diesem Krieg in der Ukraine sehen können –, tatsächlich das zu tun, wovon er früher gesprochen hat. Der Krieg in Georgien und der Kampf um die Donbass-Region waren lokal begrenzt, da gab es noch eine Zurückhaltung, eine Art Sinn für Pragmatismus und Mass. Putin ist furchtloser geworden. Offensichtlich ist er bereit, in einem Konflikt, in dem Russland wirklich nicht so gut dasteht, ein grosses Risiko einzugehen.

Ist Putin krank beziehungsweise krankhaft verrückt?
Es gibt diese Gerüchte, ja. Schon seit einiger Zeit. Das kann gut sein, wenn man ihn anschaut und sieht, wie er sich verhält. Wir haben dafür aber keinen Beweis.

Es ist bekannt, dass Putin zum Beispiel kein Smartphone benutzt. Wem hört er zu und weiss er überhaupt, wie schlecht sich die russischen Truppen schlagen?
Wir wissen, dass er sich nur mit einer sehr kleinen Gruppe von Leuten umgibt, etwa dem Verteidigungsminister. Der schien für ein paar Wochen verschwunden, ist jetzt aber wieder da. Zur Gruppe gehören wohl auch die Chefs der Nachrichtendienste und der Sicherheitsberater. Wir gehen von vier oder fünf Leuten aus, aber dieser Kreis ist eine ziemliche Blackbox. Wir müssen davon ausgehen, dass ihm diese Leute erzählen, was er hören will – denn ganz offensichtlich hat er sich verkalkuliert, was die Einnahme Kiews angeht. Es ist wohl wie bei vielen Diktatoren: Die Leute um sie herum wollen keine schlechten Nachrichten überbringen.

Denken Sie, es gab einen Punkt, an dem der Westen die Invasion hätte verhindern können?
Ich sehe keinen. Russland hat den Einmarsch geplant und die Truppen dafür im Oktober aufgestellt. Es war sehr klug von den USA, manche ihrer Geheimdienst-Informationen zu teilen, damit die europäischen Verbündeten verstehen, was wir sehen. Wir haben auch Russland klargemacht, dass wir wissen, was sie tun. Der CIA-Direktor war noch in Moskau. Er hat sich mit Putin getroffen. Er hat ihm gesagt: Das wissen wir – und diese Sanktionen könnten folgen. Ich glaube nicht, dass es einen grossen Unterschied gemacht hätte, wenn wir diese Sanktionen etwa nicht angekündigt hätten – ausser die USA hätten alle Bedingungen akzeptiert, die Moskau im Dezember präsentiert hat. Und das war von Anfang an keine Option.

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Moskau scheint von einigen Forderungen abgerückt, besteht aber darauf, dass die Ukraine neutral wird, eine Nato-Mitgliedschaft ausschliesst und die Krim und den Donbass aufgibt. Wäre das wirklich genug, um Putin zufriedenzustellen?
Ich könnte mir das vorstellen, wenn es ernsthafte Verhandlungen gäbe – wozu Russland aktuell nicht bereit ist. Putin wollte die Ukraine unterwerfen, und er wollte eine pro-russische Regierung in Kiew. Aber das hat er bislang nicht geschafft – und es könnte sein, dass er sich kurz- und mittelfristig mit weniger zufriedengibt. Langfristig will er einen slawischen Staatenbund mit der Ukraine und Belarus. Und er hat auch ein Auge auf Polen und andere Länder geworfen. Dort will er Einfluss haben. Er will wirklich das Ende des Kalten Kriegs neu verhandeln und würde wohl nicht mit der Ukraine aufhören, wenn er lang genug an der Macht bliebe und genügend Ressourcen hätte. Aber: Das ist alles sehr hypothetisch, und gerade steckt er in der Ukraine fest.

Er würde aber, wenn er könnte, auch das Nato-Mitglied Polen angreifen?
Zumindest könnte er Polen massiv verunsichern. Wenn Russland in der Ukraine die Oberhand gewinnt, stehen die russischen Truppen an der polnischen Grenze. Das würde meiner Meinung nach zu grösserer Instabilität führen.

Wie sieht die Welt aus, die Putin will?
Eine ohne Regeln. Es ist eine Art postwestliche Welt, eine Welt, in der nichts geplant verläuft.

Wollen das auch seine Verbündeten – etwa China?
China will auch eine neue Weltordnung, aber mit Regeln. China, Indien, eine Reihe afrikanischer Länder und Länder im Nahen Osten verhandeln gern mit Russland und haben nicht die gleiche negative Sicht auf Putin wie der Westen. Es reichen also gegebenenfalls schon Veränderungen im Machtgefüge der Welt, um auch Putin erstarken zu lassen.

Putin könnte wie in Syrien Chemiewaffen einsetzen, und er droht mit Atomwaffen. Geht er so weit – und wie würde der Westen darauf reagieren?
Es kann gut sein, dass er bald Giftgas einsetzt. Biden sagte vergangene Woche, dass der Westen darauf «angemessen» reagieren würde – aber was das heisst, wissen wir nicht. Wir werden ja vermutlich im Gegenzug keine Chemiewaffen einsetzen. Und genau das ist das Ziel von Putin: zu zeigen, dass die Nato ein zahnloser Tiger ist und am Ende nicht das tun wird, was sie vorgibt zu tun – eine kollektive Verteidigung. Darauf steuern wir jetzt zu, und das halte ich für gefährlich. Und die Nato sorgt sich auf jeden Fall, dass er Biowaffen einsetzen könnte oder sogar auch eine Atomwaffe. Diese Bedrohung sollten wir alle sehr ernst nehmen. Ich denke, wenn er eine Atomwaffe einsetzt, wäre es eine «taktische», sehr gezielt in der Ukraine eingesetzte Waffe – keine, um etwa die USA anzugreifen. Aber das hätte auch Auswirkungen auf die Nachbarländer der Ukraine. Eine richtige Antwort auf jede dieser Möglichkeiten ist sehr schwierig.

Ist Putin krebskrank?

Leidet Wladmir Putin (69) an Schilddrüsenkrebs? Dies zumindest behauptet die in Russland gesperrte Onlineplattform Proekt Media. Der russische Präsident werde seit 2016 ständig von Ärzten begleitet. Jewgeni Seliwanow etwa, ein Spezialist für Schilddrüsenkrebs vom Zentralkrankenhaus in Moskau, sei in dieser Zeit mindestens 35-mal zu Putins bevorzugtem Wohnort nach Sotschi geflogen. Weiter wird behauptet, Putin könnte wegen seiner Krebserkrankung mit Steroiden behandelt werden. Das sei die Erklärung für sein aufgedunsenes Gesicht – und seine öffentlichen Wutanfälle.

Leidet Wladmir Putin (69) an Schilddrüsenkrebs? Dies zumindest behauptet die in Russland gesperrte Onlineplattform Proekt Media. Der russische Präsident werde seit 2016 ständig von Ärzten begleitet. Jewgeni Seliwanow etwa, ein Spezialist für Schilddrüsenkrebs vom Zentralkrankenhaus in Moskau, sei in dieser Zeit mindestens 35-mal zu Putins bevorzugtem Wohnort nach Sotschi geflogen. Weiter wird behauptet, Putin könnte wegen seiner Krebserkrankung mit Steroiden behandelt werden. Das sei die Erklärung für sein aufgedunsenes Gesicht – und seine öffentlichen Wutanfälle.

Wovon hängt es ab, ob Putin zu einer dieser Waffen greift?
Davon, wie sehr er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Und ob er das Gefühl hat, dadurch an der Macht bleiben zu können. Denn das muss er aus seiner Sicht unbedingt, weil er sonst nicht weiss, was mit ihm passiert.

Es gibt Vorschläge, ihm Asyl anzubieten – etwa in der Schweiz …
(Lacht.) Die Schweiz hätte das sicher nicht gern! Im Ernst: Er würde natürlich einen Ort finden, der ihn aufnimmt, falls er Russland verlassen will. Aber er hat fast sein ganzes Leben lang Russland angeführt. Er steht für diese Idee einer grossen russischen Nation. Ich glaube nicht, dass er überhaupt noch einen Unterschied zwischen sich als Person und dem Land macht.

Wie fest sitzt er denn im Sattel – stützt ihn zum Beispiel der Geheimdienst noch?
Es gibt Gerüchte über einige Mitglieder des russischen Geheimdienstes, die offenbar unter Hausarrest gestellt wurden. Diese Gerüchte stammen vor allem von einem sehr guten Journalisten, der innerhalb des FSB Quellen hat. Ich habe das aber noch nirgends bestätigt gesehen. Zudem gibt es Gerüchte über Verschwörer in anderen Behörden. Aber auch hier wissen wir noch nichts, was Putin wirklich gefährlich werden könnte. Sein innerer Kreis scheint fest hinter ihm zu stehen.

Selenski will direkt mit Putin verhandeln. Würde das überhaupt zu etwas führen?
Nur wenn Russland wirklich mit den Kämpfen aufhören will. Ein Waffenstillstand könnte aktuell zwar vereinbart werden, aber dann auch nur von kurzer Dauer sein. Die Verhandlungen, die gerade laufen, werden von niederrangigen Unterhändlern geführt, und ich glaube nicht, dass die Russen sie ernst meinen. Und ich kann mir schwerlich vorstellen, dass sich Putin mit Selenski trifft, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde. Als ebenbürtig anerkennt er eigentlich nur Joe Biden, Xi Jinping und vielleicht Indiens Ministerpräsidenten Narendra Modi. Putin ist ja auch davon überzeugt, dass die Ukraine kein echtes Land ist. Und Russland müsste bereit sein, Zugeständnisse zu machen.

Sie sagten in einem Interview, es sei klar, dass es kein Zurück zu der Zeit vor März 2021 gibt, als Russland begann, seine Truppen an der Grenze zusammenzuziehen.
Ja, das System, mit dem wir 30 Jahre gelebt haben, ist zerstört. Dass Russland ohne jegliche gegnerische Provokation in die Ukraine einmarschiert ist, bedeutet, dass die Spielregeln und Grenzen verschoben sind. Warum sollte Putin das Gleiche nicht mit Moldawien machen? Deshalb müssen wir die europäische Sicherheit neu organisieren. Die USA haben nun bereits erklärt, dass sie dauerhaft Truppen in einigen der «Frontstaaten» stationieren werden – das hatte man in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 eigentlich ausgeschlossen. Und wir müssen die Beziehung zwischen der Nato und Nicht-Nato-Ländern in der Region überdenken. Ich bin gespannt, ob die Finnen einen Antrag auf eine Mitgliedschaft einreichen.

Wäre das denn eine gute Idee?
Aus ihrer Sicht muss man ja sagen, dass die Finnen Russland 1940 schon erfolgreich bekämpft haben. Aber die Nato-Mitgliedschaft würde ihnen einen besseren Schutz geben. Moskau sähe das allerdings als Provokation.

Sollte die Schweiz der Nato beitreten?
Ich denke, dass die Schweiz über sehr effektive Streitkräfte verfügt und sich als neutrales Land auf dieser langen Seite recht gut geschlagen hat. Und soviel ich weiss, hat Russland die Schweiz nie bedroht. Wahrscheinlich muss die Schweiz also nicht der Nato beitreten.

Was wäre Ihre Vermutung, wie lange die offenen Kämpfe in der Ukraine noch anhalten?
Das könnte gut noch einige Wochen gehen. Vielleicht gibt es dann einen Waffenstillstand, der aber nicht final sein muss. Ich glaube, die Vorstellung, dass der Krieg irgendwann einfach vorbei ist, ist nicht realistisch. Aber es könnte eine Art Gesetz geben, einen zumindest ausgerufenen Waffenstillstand und humanitäre Korridore, sodass Menschen auch innerhalb des Landes umgesiedelt werden können.

Wird Selenski dann noch Präsident sein?
Für den Moment ja. Aber ich denke, falls er zu viele Zugeständnisse macht, müsste er sein Amt wohl aufgeben – oder Russland nimmt ihn gefangen und tötet ihn, was zu Beginn eindeutig die Absicht war.

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