Auf einen Blick
Mitten im Krieg kommt es in der ukrainischen Regierung zu einem grossen Sesselrücken. Präsident Wolodimir Selenski (46) wechselt über die Hälfte aller Ministerien aus. Auch der bekannte Aussenminister Dmytro Kuleba (43) muss den Hut nehmen.
Selenskis offizielle Begründung der Umstrukturierung: Die Regierungsarbeit soll unter der Last des Krieges effektiver werden. Mykhajlo Minakov (42), Ukraine-Forscher am Kennan Institute des Woodrow Wilson International Center for Scholars, hat aber weitere Vermutungen.
Dass auch der bekannte Aussenminister zurücktritt, könnte mit einer neuen Ausrichtung der Aussenpolitik zusammenhängen. Minakov sagt gegenüber Blick: «Die Ukraine tritt in eine neue Phase des Krieges ein. Vermutlich ist nun eine neue Art von Diplomatie erforderlich.»
Die neue Phase besteht einerseits aus dem Eindringen von ukrainischen Truppen in Russland und andererseits auf die erwartete verstärkte Offensive der Russen, die vor dem Winter die ukrainische Energieinfrastruktur zerstören wollen.
Noch ist nicht bekannt, wer auf Kuleba folgen wird. «Wenn es ein starker Diplomat sein wird, dürfen wir erwarten, dass die Diplomatie genauso wichtig wird wie das Militär. Bisher war der militärische Aspekt klar wichtiger», sagt Minakov.
Kampf gegen Korruption
Ein dritter Grund für den Regierungsumbau dürfte der Kampf gegen die Korruption sein. Mit der Entlassung des dienstältesten Vize-Direktors Gizo Ugulava (49) kommt es im Nationalen Antikorruptionsbüro zu einem bedeutenden Abgang. Gegen Ugulava wurde in vergangener Zeit wegen verschiedener Anschuldigungen ermittelt.
Als neue Justizministerin ist die bisherige Vize-Ministerpräsidentin und Ministerin für europäische Integration, Olha Stefanischyna (38), im Gespräch. «Es wäre ein gutes Zeichen», meint Minakov. «Ihre Nominierung würde dem Antikorruptionsbüro neuen Schwung verleihen.»
Minakov betont: «Die Umbildung der Regierung bedeutet keinen Kurswechsel, sondern lediglich eine leichte Anpassung der ukrainischen Politik.» Überhaupt: Das aktuelle Kabinett sei im März 2020 ernannt worden. «Es ist das am längsten amtierende Kabinett. Die durchschnittliche Amtsdauer beträgt lediglich 14 bis 16 Monate.»
Routine verhindern
Laut Denis Trubetskoy (31), politischer Korrespondent in Kiew, sind für Selenski regelmässige Rochaden wichtig. «Er ist jemand, der gerne eine gewisse emotionale Müdigkeit vermeiden will und daher immer wieder Dinge verändert.» Mit der Umstrukturierung wolle er «etwas Frische» ins System reinbringen.
Dass der Wechsel jetzt vollzogen wird, dürfte mit der bald eintretenden schwierigen Phase zusammenhängen, die vermutlich ab der zweiten Herbst-Hälfte eintreten dürfte. Trubetskoy: «Die veränderte Regierung hat jetzt eineinhalb Monate Zeit, um sich einzuspielen.»
Wie lange bleibt Selenski?
Und Selenski? Wie lange kann er sich selber noch behaupten? Laut Trubetskoy liegen die Vertrauenswerte gegenüber ihm bei aussergewöhnlich hohen 60 Prozent.
Auch Minakov glaubt, dass Selenski fest im Sattel sitzt. Erst recht nach dem Regierungsumbau und der Entlassung des Stellvertreters von Andrij Jermak (52), dem Leiter des Präsidialamtes, bei dem die eigentliche Macht liege. Minakov: «Jetzt ist Jermark noch mächtiger und Selenkis Rückhalt damit ebenfalls noch grösser geworden.»
Kritik bei der Opposition
Der Umbau sorgt bei der Opposition für Kritik. Die Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschtschenko (53) schrieb auf Facebook: «In der Regierung Selenski fehlen heute 10 von 21 Ministern. Die Regierung ist faktisch handlungsunfähig.»
Der mit einem Hochverratsvorwurf in Untersuchungshaft sitzende, ursprünglich für die Selenski-Partei gewählte Parlamentsabgeordnete Olexander Dubinskyj (43) bezeichnete den Vorgang als «Augenwischerei». «Das Hauptproblem, weswegen die Ukraine den Krieg gegen die Russische Föderation verliert, ist die Inkompetenz der Regionalregierungen, die über Jermak aus dem Präsidentenbüro ernannt wurden», schrieb er auf Telegram.