Atommacht im eigenen Land angegriffen – Kremlchef drohte, aber machte nicht Ernst
Waren Putins «rote Linien» nur ein Bluff?

«Rote Linien» dürfen nicht überschritten werden. Das machte Kremlchef Wladimir Putin immer wieder deutlich. Doch bisher gab es bei Grenzüberschreitungen weder Konsequenzen für die Ukraine noch den Westen. Warum das so ist, erklären Experten.
Publiziert: 29.08.2024 um 13:48 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2024 um 16:07 Uhr
Kremlchef Wladimir Putin rechnete nicht mit einem Angriff auf das eigene Land – Experten erklären, warum.
Foto: keystone-sda.ch
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Kremlchef Wladimir Putin (71) sprach im Ukraine-Krieg immer wieder von «roten Linien», die der Westen und die Ukraine nicht überschreiten dürfen. Schon am ersten Tag des Krieges drohte er Konsequenzen an, «wie ihr sie in eurer ganzen Geschichte noch nie gesehen habt», falls sich der Westen in den Weg Russlands stellen würde. Wenig später begann er auch, mit nuklearen Vergeltungsschlägen zu drohen. «Das ist kein Bluff», betonte Putin im September des gleichen Jahres in einer Videobotschaft.

In derselben Ansprache stellte er klar, dass ein Angriff auf Russland eine rote Linie sei, die niemand überschreiten sollte: «Wenn die territoriale Integrität Russlands bedroht ist, werden wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu schützen.» Ein klarer Hinweis auf Russlands Atomarsenal. Vor zwei Wochen geschah genau das. Das ukrainische Militär nahm die russische Region Kursk ein. Russland reagierte mit heftigen Luftangriffen auf die ukrainische Infrastruktur – nichts, was es bisher nicht gegeben hat. Die im September 2022 angedrohten Konsequenzen blieben bis dato – glücklicherweise – aus. Warum?

Sind die «roten Linien» nur ein Bluff?

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 überschritt die Ukraine wiederholt vermeintlich rote Linien des Kremls: die Versenkung des russischen Schwarzmeerflaggschiffs Moskwa, der Anschlag auf die Krim-Brücke 2022, die Drohnenangriffe auf den Kreml und Moskau 2023. Diesen August folgte der nächste Tabubruch: der Einmarsch ukrainischer Streitkräfte in russisches Grenzgebiet.

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Vor rund zwei Wochen marschierte das ukrainische Militär in Russland ein.
Foto: keystone-sda.ch

Es ist eigentlich kaum vorstellbar: Eine der grössten Atommächte der Welt wird auf eigenem Boden angegriffen. Die ultimative rote Linie wurde überschritten – wo bleibt die russische Rache? Der österreichische Politologe und Russland-Experte Gerhard Mangott (58) erklärt im Gespräch mit Blick: Das Schreckgespenst der «nuklearen Eskalation» diente lediglich als Abschreckung für die Ukraine und den Westen. Dass der Kremlchef seine Drohungen mit grosser Wahrscheinlichkeit gar nicht in die Tat umsetzen möchte, sei irrelevant. Alleine die Angst des Westens vor einer Eskalation soll ausreichen, um ihn von der Ukraine-Hilfe abzuhalten.

Der vermeintliche Bluff zeigt Wirkung

Und bis zu einem gewissen Grad entfalteten die «roten Linien» auch ihre Wirkung beim Westen. Der Schweizer Russland-Experte Ulrich Schmid erklärt gegenüber Blick: «Seit 2022 können wir in der Ukraine ein Spiel von russischen Ankündigungen und westlichen Zugeständnissen beobachten.» Exemplarisch dafür: Zu Beginn des Ukraine-Kriegs traute sich Deutschland kaum, Schutzhelme an die Ukraine zu liefern.

Heute wird die Ukraine sogar mit westlichen Kampfjets ausgestattet. Und nicht nur das: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) bat den Westen Anfang Woche sogar um Erlaubnis, die Waffen und Kampfjets für den Angriff auf Russland verwenden zu dürfen. Sergei Lawrow (74), der russische Aussenminister, warnte die USA am Dienstag prompt vor einer Zusage und brachte sogar nochmals die russische Nukleardoktrin ins Gespräch. Diese erlaubt einen Einsatz von Atomwaffen, «wenn die Existenz des russischen Staates selbst bedroht ist».

Putin hat keine Möglichkeit zur Eskalation

Noch zögern die westlichen Verbündeten zwar, was die Kampfjets angeht – doch die Vergangenheit zeigt, dass wohl auch diese vermeintlich rote Linie irgendwann überschritten wird. Und dass die russischen Atomdrohungen kaum mehr Wirkung haben, unterschreibt die Ukraine mit ihren Taten in Kursk.

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«Putin rechnete nicht mit der Entschlossenheit des Westens»
Gerhard Mangott, Politologe und Russland-Experte
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Auch Experte Mangott sagt: «Ich glaube nicht, dass Russland eskalieren wird, wenn diese Waffenfreigabe durch den Westen erfolgt.» Das hat einen überraschenden Grund: «Putin rechnete schlicht nicht mit der Entschlossenheit des Westens, die Ukraine zu unterstützen», so Mangott. Putins Bluff ist nun also endgültig aufgeflogen – weil er gar nie mit einer solchen Reaktion rechnete. Trotzdem warnt Mangott: «Es wäre ein fataler Fehler des Westens, zu glauben, dass es gar keine roten Linien gibt.»

Experte Schmid vermutet ausserdem, dass Putins Prioritäten gar nicht auf der Rache an der Ukraine liegen, sondern: «Er scheint alles zu unternehmen, um der eigenen Bevölkerung zu signalisieren, dass es sich hier um ein Nicht-Ereignis handle.» Um das Gesicht vor seiner Bevölkerung zu wahren, riskiert Putin also, es vor der Ukraine und dem Westen zu verlieren. Mangott ergänzt: «Neue Drohungen bei angeblich neuen roten Linien werden nicht mehr so ernst genommen. Es schwächt die Glaubwürdigkeit Russlands.»

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