Es ist beinahe schon zum vertrauten Ritual geworden: Die Ukraine bittet um Waffen, die Regierungen in Europa und den USA schätzen über Wochen und Monate die Risiken ab. So ist es auch jetzt, in der jüngsten Diskussion um deutsche Taurus-Marschflugkörper. Mit einer Reichweite von 500 Kilometern könnten die ukrainischen Truppen damit strategische Ziele weit im russischen Inland treffen.
«Achtung, Eskalation!», heisst es jedes Mal, wenn es um Waffenlieferungen geht. Am Ende entscheiden sich die westlichen Regierungen meist doch für die Lieferung der Waffen. Bereits wurden einige anfängliche Tabus gebrochen, etwa mit der Lieferung von Kampfjets aus Polen oder Streumunition aus den USA.
Die befürchtete Eskalation erfolgte bisher nie. Einzige Konsequenz der langen Debatten: Der Ukraine werden die Waffen viel zu spät und in viel zu kleiner Menge geliefert. So lautet zumindest die Meinung der politischen Führung der Ukraine unter Präsident Wolodimir Selenski (45).
Mehr zu Waffenlieferungen aus dem Westen
Viele Militärexperten teilen diese Haltung. «Ineffizient», seien die Nato-Staaten, wenn es um Waffenlieferungen ginge, erklärt Jack Watling, Professor für Landkriege am britischen Royal United Services Institute, in einer Analyse. «Die Verzögerung zwischen dem Wissen, das benötigt wird, und der Zusage, es zu tun, hat sich als sehr kostspielig für die Ukraine erwiesen.»
Keine Waffen, keine erfolgreiche Gegenoffensive
Besonders anschaulich lässt sich dies am Beispiel der ukrainischen Gegenoffensive zeigen: Ein Grossteil der dafür benötigten Waffenlieferungen aus dem Westen wurde erst im Januar beschlossen. Dadurch erreichte die Ausrüstung die Ukraine erst im Februar oder März – wenige Monate, bevor die Gegenoffensive losgehen sollte.
Die Ukraine war daher gezwungen, in die Offensive zu gehen, bevor ihre Einheiten vollständig vorbereitet waren. Wäre die Entscheidung, die ukrainischen Streitkräfte auszurüsten und auszubilden, zum Zeitpunkt der Bedarfsermittlung im Herbst umgesetzt worden, wäre es für die Ukraine wohl wesentlich einfacher gewesen, Gebiete zurückzuerobern.
Wie stark die späten Waffenlieferungen die Situation auf dem Schlachtfeld während der Gegenoffensive noch heute beeinflusst, zeigt der Datenjournalist Brady Africk in der «Washington Post» mit eindrücklichen Karten.
Im September letzten Jahres bat die Ukraine ihre Verbündeten um westliche Panzer, um sich gegen die russische Invasion zu wehren. Zu diesem Zeitpunkt zeigten Satellitenbilder, dass Russland gerade erst mit dem Bau von Befestigungsanlagen begonnen hatte.
Während die Verbündeten darüber diskutierten, ob sie Panzer schicken sollten, begann Russland, sich zu verschanzen. Als die Ukraine ein halbes Jahr später endlich die Panzer erhielt, waren Hunderte von Kilometern an Befestigungsanlagen vom Weltraum aus sichtbar.
Dann wiederholte sich das Muster. Als die Ukraine im vergangenen Dezember US-Streumunition anforderte, konzentrierten sich die meisten der neuen russischen Befestigungen in der Nähe der Frontlinie. Sechs Monate später, als die Ukraine endlich die Streumunition von den Vereinigten Staaten erhielt, hatte Russland weite Teile der besetzten Ost- und Südukraine befestigt, entlang der Grenze und im Norden der Krim.
Was es jetzt noch braucht
Die russischen Stellungen bestehen in der Regel aus Schützengräben, Fahrzeugsperren und Landminen. Für die ukrainischen Truppen hat das verheerende Folgen: Ihr Tempo ist langsamer und der Blutzoll hoch. «Für hundert Meter, die wir einnehmen, verlieren wir im Durchschnitt vier bis fünf Soldaten», sagte ein Infanterist, der in der Nähe von Donezk kämpft, Ende Juli zur «Kiew Post».
Die ukrainische Offensive kann noch gelingen. Aber der Preis ist wegen der westlichen Lethargie stark gestiegen, so die beiden Experten. Es ist nun entscheidend, dass sich westliche Partner zu schnellen Lieferungen von Waffen durchringen. Die aktuelle Taurus-Debatte in der deutschen Bundesregierung stimmt jedoch wenig optimistisch: «Aktuell wird hierzu keine Entscheidung vorbereitet», erklärte ein hochrangiger Regierungsbeamter am Freitag in der Bild-Zeitung.