Der kommende Sonntag ist für Europa ein historischer Tag. Am 22. Januar vor 60 Jahren haben Deutschland und Frankreich den Élysée-Vertrag unterschrieben, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Freundschaft der beiden Länder besiegelte.
Kanzler Olaf Scholz (64) und Präsident Emmanuel Macron (45) werden das Jubiläum bei einem Festakt an der Sorbonne-Universität in Paris gebührend feiern.
Nur: Die viel gepriesene Freundschaft hat Risse. So sagt Gilbert Casasus (66), emeritierter Professor für Europastudien und Kenner des Élysée-Vertrages, gegenüber Blick: «Die deutsch-französischen Beziehungen durchqueren eine ernstzunehmende Krise.»
Amerikanischer Einfluss wächst
Zurückzuführen sei der Konflikt auf unterschiedliche europapolitische Positionen sowie auf einen Generationswechsel. Casasus zu Blick: «Während Paris sich berechtigterweise Sorgen über die Renaissance proamerikanischer Einflussnahme in Deutschland macht, distanziert sich eine neue Generation deutscher Politikerinnen und Politiker vom zwischenstaatlichen Vorzeigecharakter der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa.»
Dies betreffe insbesondere die deutschen Grünen, welche die französischen Wertevorstellungen zugunsten eines angelsächsischen Gesellschaftsmodells zunehmend ablehnen. «Frankreich hat in Deutschland eindeutig an Attraktivität verloren», sagt Casasus.
Darüber hinaus seien beiden Staaten mit sehr unterschiedlichen Ausgangslagen konfrontiert. So könne Scholz auf eine einigermassen stabile Regierungsmehrheit zählen, die Macrons Partei bei den Parlamentswahlen im Frühling 2022 verfehlt habe, erklärt Casasus.
Auch die Regierungschefs selber begegneten sich nicht auf Augenhöhe. Casasus: «Macron ist als Musterschüler des republikanischen Elitendenkens Frankreichs Scholz intellektuell und kulturell um einiges überlegen. Darüber hinaus verfügt er über staatsmännische und rhetorische Talente, die bei Scholz weniger zum Ausdruck kommen.»
Mehrere Streitpunkte
Der Konflikt hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder auch öffentlich gezeigt. Gab in Europa bisher vor allem Deutschland die Impulse, drückt nun Frankreich viel stärker aufs Pedal. Casasus nennt folgende Streitpunkte:
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Macron wartet nach seiner proeuropäischen Rede am 26. September 2017 an der Sorbonne immer noch auf eine zufriedenstellende und für ihn erfreuliche deutsche Antwort. Macron plädierte in Paris für die Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas.
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Im März 2019 hat die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (60) Paris in Verlegenheit gebracht, als sie dem französischen Vorschlag einer europäischen Armee eine eindeutige Absage erteilte.
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Am 29. August 2022 plädierte Kanzler Olaf Scholz in seiner Prager Europarede für eine Erweiterung der EU auf 36 Staaten, was Paris ohne vorgängige EU-Reform als Hirngespinst abtat.
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Zudem führen einige nationale energie- und militärpolitische Entscheidungen zu einem gegenseitigen Vertrauensverlust. So fördert Deutschland immer noch Kohle, während Frankreich auf Atom setzt. Und Frankreich ist verärgert, weil Deutschland amerikanische Waffensysteme kaufen will.
Ohne Freundschaft lahmt die EU
Dabei ist für die Stabilität in Europa die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich von grosser Wichtigkeit. «Die deutsch-französischen Beziehungen sind schon längst zum Gradmesser für den Zustand der Europäischen Union geworden: Je besser die Zusammenarbeit funktioniert, desto handlungsfähiger ist die EU», so Casasus.
Alle meist kurzfristigen Versuche, die Prioritäten auf andere Länder zu setzen, seien gescheitert – etwa die Annäherung des ehemaligen Kanzlers Gerhard Schröder (78) mit Grossbritannien oder die des ehemaligen Präsidenten François Hollande (68) an die Mittelmeeranrainerstaaten.
Französisch büffeln
Um die Freundschaft wiederherzustellen, müssten die beiden Regierungen ihre Differenzen überwinden. Dies betrifft laut Casasus wehrpolitische Projekte wie ein gemeinsames Luftkampfsystem, Restrukturierung bei der Energieversorgung sowie Lösungsansätze zu regionalen Friedenssicherungen. Auch in den Bereichen Klima, Migration und Sozialpolitik sollten die beiden Regierungen ihren EU-Partnern einen ambitionierten Vorschlag unterbreiten.
Ein weiterer Schlüssel zur Wiederbelebung der Freundschaft führe über die Sprache. Casasus fordert, dass sich die beiden Länder baldmöglichst für eine dezidierte und dringende Lehr- und Sprachpolitik einsetzten, «damit die Kultursprachen Deutsch und Französisch im europäischen Raum dem englischen bzw. amerikanischen Denken nicht noch dramatischer zum Opfer fallen».
Casasus bilanziert: «Auch wenn ich mich zurzeit über den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen sorge, muss man festhalten, dass es sich um eine einmalige und unvergleichbare europäische Erfolgsgeschichte handelt.»