Der Präsident hat keine Power mehr, um bei ehemaligen Sowjetrepubliken einzugreifen
Putin entgleitet die Herrschaft über sein Reich

Während Moskau praktisch seine ganze militärische Kraft auf die Ukraine konzentriert, brechen an anderen Orten wieder Konflikte aus. Welches sind die Krisenherde? Bricht Russland nun auseinander? Blick ordnet die Lage und Gefahr ein.
Publiziert: 20.09.2022 um 00:11 Uhr
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Aktualisiert: 20.09.2022 um 15:49 Uhr
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Konfliktherd Bergkarabach: Anfang September kam es zwischen aserbaidschanischen (Bild) und armenischen Truppen zu blutigen Kämpfen.
Foto: DUKAS
Guido Felder

Zuerst Bergkarabach, nun auch an der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan: Im Schatten des Krieges in der Ukraine flammen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wieder Konflikte auf. Bisher eilte Moskau jeweils militärisch zu Hilfe, um eine Partei zu unterstützen oder um die Lage zu beruhigen.

Zurzeit aber sind die russischen Truppen in der Ukraine beschäftigt. Als Armenien vor wenigen Tage im Konflikt gegen Aserbaidschan um Unterstützung bat, ignorierte der Kreml den Hilferuf.

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Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland die Rolle des Friedensgaranten im Südkaukasus und in Zentralasien übernommen. «Die Grenzziehungen in mehreren Regionen gehen auf politisch motivierte Entscheidungen in der frühen Sowjetzeit zurück», erklärt Russland-Experte Ulrich Schmid (56) von der Uni St. Gallen die immer wieder ausbrechenden Konflikte.

Bisher konnte Moskau revisionistische Tendenzen in Schach halten. Schmid: «Nun ist die Schutzmacht selbst geschwächt, und die postsowjetischen Staaten sehen sich ermuntert, selbst den Status quo zu verändern.»

Das bestätigt aus militärischer Sicht Strategieexperte Mauro Mantovani (59) von der ETH-Militärakademie: «Die Russen haben ihre Garnisonen in befreundeten Staaten schon seit Monaten ausgedünnt und verlieren dadurch auch politisch an Einfluss.»

Russlands Heterogenität ist gross. Die Föderation besteht aus 84 Landesteilen, die ganz unterschiedliches Gewicht haben. Von der Gesamtbevölkerung sind nur rund 77 Prozent Russen. Fällt das grosse Land nun auseinander? Schmid: «Im Moment ist ein Zerfallen Russlands ein Szenario, das noch unwahrscheinlich ist.» Allerdings müsse Präsident Wladimir Putin (69) alles dran setzen, dass es nicht so weit komme.

Blick zeigt, welches die möglichen Konfliktgebiete sind, in denen sich die Spannungen jetzt wieder erhöhen könnten.

Bergkarabach (4400 km2, 150'000 Einwohner)

Der Streit um das von Armeniern besiedelte, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Gebiet begann 1988 und weitete sich in Kriegen aus. 2020 holte Aserbaidschan grössere Gebiete zurück. Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, Armenien von Russland. Am 13. September 2022 kam es im Schatten des Ukraine-Krieges zu Angriffen, bei denen es rund 200 Tote gab. Eigentlich hätten russische Grenzschützer den Waffenstillstand garantieren sollen.

Kirgistan/Tadschikistan (200'000 km2, 6,6 Mio./143'100 km2, 9,5 Mio.)

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren streiten die beiden Länder über den Verlauf der rund 1000 Kilometer langen Grenze an zahlreichen Stellen. In den vergangenen Tagen kam es erneut zu schweren Kämpfen, die gegen 100 Tote forderten.

Tschetschenien (17'300 km2, 1,4 Mio.)

Herrscher Ramsan Kadyrow (45) habe eine neostalinistische Diktatur errichtet und mit Putin einen Pakt geschlossen, sagt Ulrich Schmid. «Tschetschenien bleibt in der Russischen Föderation, dafür gewährt der Kreml Kadyrow freie Hand bei seiner Machtausübung.» Kadyrow unterstützt mit eigenen Leuten die russischen Truppen beim Krieg in der Ukraine. Eine Schwächung des Zentrums könnte auch die Situation in Tschetschenien verändern, meint Schmid.

Tatarstan (67'847 km2, 3,8 Mio.)

Tatarstan ist eine autonome Republik im östlichen Teil des europäischen Russlands. Schmid: «Es hat eine starke eigene Identität, die aber bisher von Moskau respektiert wurde.» Allerdings musste die autonome Republik, seit Putin an der Macht ist, mehrere Sonderrechte abgeben.

Chabarowsk (389 km2, 580'000)

2020 kam es in der Region Chabarowsk im Fernen Osten zu Protesten gegen die Festnahme des Gouverneurs Sergej Furgal (52). Der Kreml warf ihm vor, Morde an zwei Geschäftsleuten organisiert zu haben. «Diese Proteste könnten bei einer Schwächung des Kremls wieder an Fahrt gewinnen», meint Schmid.

Abchasien (8661 km2, 250'000)

Die autonome Republik, die völkerrechtlich zu Georgien gehört, betrachtet sich seit 1994 als unabhängige Republik. Der Kreml stand auf ihrer Seite, als Georgien die abtrünnige Region militärisch zurückholen wollte. Die UNO überwacht die Waffenstillstandslinie.

Südossetien (3900 km2, 50'000)

In den 1920er-Jahren wurde der Norden von Ossetien Russland, der Süden Georgien zugeteilt. 1990 erklärte sich Südossetien für unabhängig. Wie bei Abchasien versuchte Georgien, Südossetien zurückzuholen, worauf Moskau den Osseten zu Hilfe eilte. In Südossetien laufen Bestrebungen, sich Russland anzuschliessen.

Adscharien (2900 km2, 350'000)

Anfang der 1990er-Jahre sagte sich Adscharien faktisch von Georgien los – das mithilfe Moskaus, das Truppen stationierte. Als in der Bevölkerung die Wut über Herrscher Aslan Abaschidse (84) wuchs, entzog ihm der Kreml die Unterstützung. Heute ist Adscharien wieder unter georgischer Kontrolle.

Transnistrien (4163 km2, 375'000)

Völkerrechtlich gehört die selbsternannte Republik an der Grenze der Ukraine dem Land Moldau an. Das Regime wird allerdings von Moskau gestützt, um Moldau von einer Anbindung an den Westen abzuhalten. Während des Ukraine-Kriegs kam es auch in Transnistrien zu Attentaten.

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