Für Yves Rossier (62), den ehemaligen Schweizer Botschafter in Moskau, ist Russland wie eine zweite Heimat. Er erinnert sich an «angenehme» Begegnungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin (69). Der mächtige Staatschef habe ihm bei den zwei, drei Treffen aufmerksam zugehört. Zusammen mit Russland, sagte Rossier im Gespräch mit den Zeitungen der CH-Media-Gruppe, hätte Europa zur Weltmacht werden können. «Aber nur mit Russland», so Rossier, der von «verpassten Chancen» spricht.
Verpasste Chancen kriegen jetzt zunehmend auch die Russen zu spüren. Das letzte Mal war Rossier Anfang Juni in Moskau. Und er erkannte das Land nicht wieder. Die Stimmung beschrieb er als «bedrückt, finster. Ich habe nichts gespürt von einem kriegerischen Patriotismus und kein einziges ‹Z› gesehen».
Nicht alle Russen seien Propaganda-Gehirnwäsche unterzogen. Die Menschen Russlands könnten sich durchaus selbst informieren. Rossier: «Man sagte mir, wir sollten auch nicht alles glauben, was im Westen erzählt wird.»
Vieles fehlt, alles wird teurer
Die meisten Russen wissen sehr wohl, was im Land abgeht und wie die Welt über Russland denkt. Und dass der Invasionskrieg von Putin zunehmend die eigene Bevölkerung beisst, darüber kann auch die staatliche Kreml-Propaganda nicht viel länger hinweg lügen.
Das Leben in Russland wird für die Bevölkerung härter. Der Wegzug von westlichen Marken wie McDonald's und Ikea ist da noch leichter zu verschmerzen. Nach dem Fall der Sowjetunion waren westliche Produkte Inbegriff für Freiheit wie im Westen. Seit Putins Defacto-Kriegserklärung an Kiew beginnt es an allem zu fehlen. Auch im Supermarkt wird alles teurer.
Importe aus dem Westen sind wieder so gefragt wie damals in Sowjetzeiten, als Damenstrümpfe und Parfüms die Mitbringsel waren, die Türen öffneten. Die Russen haben Eigenproduktionen von allem. Doch die Russen rümpfen die Nase über viele dieser Produkte.
Unmut im Land wächst
Darüber berichten auch russische Medien. Die fühlen sich keinesfalls der Staatszensur unterworfen, nur eine heile Welt vorspiegeln zu müssen. Die Kritik erfolgt – noch – meist verschlüsselt. Wieder, wie damals in Sowjetzeiten. Die Theater damals waren voll. Es war eine hohe Kunst, Kritik an den verhassten Machthabern zu üben, ohne diese beim Namen zu nennen.
Als es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlaubt war, alles zu sagen, waren auch Theater nie mehr so gut besucht. Der Unmut in Russland wächst. Das Leben ist schwieriger und teurer geworden.
Besonders dem Ärger über steigende Lebenskosten, schummelnde Hersteller und um sich greifende Etikettenschwindel wird derzeit Luft gemacht. Die grosse Moskauer, im ganzen Land erscheinende Zeitung «Komsomolskaja Prawda» deckt auf, wie «Hersteller in der Krise mit Produkten schummeln, um die Preise nicht zu erhöhen».
Vorsicht, wenn der Preis nicht steigt
Wenn der Preis für ein Produkt nicht steige, sei Vorsicht geboten, warnt die Zeitung. Verpackungsmaterial, Rohstoffe, selbst Gewürze: Vieles müsste, könne jedoch nicht mehr importiert werden. Die Zeitung spricht von einer Inflation von 17 Prozent. Und die Qualität von Produkten werde immer mieser.
Hersteller lassen Packungen entweder schrumpfen, wird beklagt, oder die Zusammensetzung werde «optimiert». So seien Bierflaschen oder Butterpackungen längst geschrumpft. Die Rede ist von «Shrinkflation», abgeleitet vom englischen Verb shrink, schrumpfen. Oder billigere Ersatzstoffe von geringerer Qualität werden verwendet. Produkte werden raffiniert «verdünnt», heisst es. «Das übliche Oliven- oder Sonnenblumenöl kann einen leicht veränderten Geschmack haben.»
Die Kräfte der Regierung und Behörden scheinen auf den Krieg konzentriert. Auch Lebensmittelkontrollen seien zurückgegangen. «Man kann sich nur auf die Ehrlichkeit der Hersteller verlassen», so das Fazit. In diesen Zeiten von Kämpfen in der Ukraine würden Konsumenten in Russland immer mehr «getäuscht». Eine Feststellung, die sich wohl auch auf die Informationspolitik des Kreml anwenden lässt.