Mehrere Kameras hielten die Mega-Explosion auf Video fest
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Beirut im Ausnahmezustand:Mehrere Kameras hielten die Mega-Explosion auf Video fest

«Das Land erlebt eine Rückkehr zu seiner blutigen Vergangenheit»
Drei Jahre nach der Explosion versinkt der Libanon im Chaos

Kein Präsident und brutale Kämpfe zwischen verfeindeten Gruppen: Im Libanon herrscht Chaos. Schafft es das Land jemals wieder aus der Krise raus?
Publiziert: 04.08.2023 um 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 04.08.2023 um 12:14 Uhr
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Am 4. August 2020 kam es in der libanesischen Hauptstadt Beirut zu einer Explosion.
Foto: DUKAS
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Seit drei Jahren herrscht im Libanon der Ausnahmezustand. Der 4. August 2020 hat das Land nachhaltig verändert. Eine Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut riss den Staat in die Krise. Es war nach den nuklearen Katastrophen in Hiroshima und Nagasaki die drittgrösste je gemessene Explosion. Bei der Explosion starben 215 Menschen, 6500 wurden verletzt, 300’000 verloren ihr Dach über dem Kopf.

Heute, drei Jahre nach dem Unglück, verschwinden die Spuren der Zerstörung langsam. Fassaden sind wieder hergerichtet, Fensterscheiben repariert und Strassen geflickt worden. Doch in den Köpfen derjenigen, die die Explosion miterleben mussten, sind die Erinnerungen noch so frisch, wie am Tag danach.

Ehemalige Botschafterin erinnert sich an Katastrophe

So geht es auch Monika Schmutz Kirgöz (54), der damaligen Schweizer Botschafterin im Libanon. Die Diplomatin wurde bei der Explosion leicht verletzt, die Schweizer Botschaft beschädigt. «Im Moment eines solchen Ereignisses ist man stark. Erst Monate oder Jahre später merkt man dann, wie tief der Schock noch immer sitzt.», erinnert sie sich im Gespräch mit Blick.

Seit Oktober 2021 ist Schmutz Kirgöz als Diplomatin in Rom tätig, den Libanon hat sie seither nicht mehr besucht, denn: Wer die Schuld an der Katastrophe trägt, ist noch immer unklar. «Bis heute musste sich niemand für diese Katastrophe verantworten», sagt sie. Versuche, den Vorfall aufzuklären, wurden von der Regierung immer wieder im Keim erstickt. Viele Libanesen sagen, die Regierung und die herrschende Elite seien für die Explosion verantwortlich.

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«Es gibt so viele Probleme im Libanon, dass man sich gar nicht so wirklich dieser einen Katastrophe widmen kann.»
Monika Schmutz Kirgöz (54), ehemalige Schweizer Botschafterin im Libanon
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Doch so wirklich befassen können sich die Libanesen nicht mit der Suche nach den Schuldigen. «Es gibt so viele Probleme, dass man sich gar nicht so wirklich dieser einen Katastrophe widmen kann», erklärt Schmutz Kirgöz. Denn die verheerende Explosion und die Ohnmacht der Landesregierung wirkten wie ein Katalysator für weitere Krisen im Libanon.

Viele Probleme im Libanon

Das kleine Land – aufgrund seiner vielen Banken einst die Schweiz des Nahen Ostens genannt – ist von politischen und wirtschaftlichen Katastrophen gebeutelt. Die libanesische Wirtschaft befindet sich in einer Rezession, die als eine der schwerwiegendsten weltweit seit den 1850er Jahren gilt, so die Weltbank. Das Bruttoinlandsprodukt ist von 2018 bis 2021 um etwa 40 Prozent gesunken, auch 2022 konnte sich die Wirtschaft nicht erholen. Die Landeswährung, der libanesische Pfund, hat mehr als 95 Prozent seines Wertes verloren. Etwa die Hälfte der Arbeitskräfte sind arbeitslos und rund 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut.

Im Juni scheiterte das Parlament zum zwölften Mal daran, einen neuen Präsidenten für das Land zu ernennen. Seit neun Monaten ist der Libanon also ohne politische Führung. Der Mangel an politischem Vertrauen im Libanon ist nicht nur auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zurückzuführen. Die Pattsituation geht über uralte konfessionelle Streitigkeiten und Misswirtschaft hinaus. Im Kern geht es um die institutionelle Zukunft des Landes.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Kann der Libanon sein multireligiöses politisches System noch retten? Pierre Boussel (59), Experte für die arabische Welt, schreibt für den Thinktank «Geopolitical Intelligence Services»: «Der Libanon erlebt eine Rückkehr zu seiner blutigen Vergangenheit und wird erneut zu einem Knotenpunkt breiterer regionaler Spannungen.»

Diese Spannungen sind bereits zu spüren. In Beirut kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen die Regierung. Palästinensische und dschihadistische Gruppierungen innerhalb des Libanons liefern sich immer wieder heftige Kämpfe in palästinensischen Flüchtlingsvierteln. Die Hisbollah – eine islamistisch-schiitische Partei und Miliz im Libanon – wird durch die politische Unsicherheit im Land immer mächtiger.

Der Libanon, der einstige Vorzeige-Staat des Nahen Ostens, steht seit Jahren auf der Kippe – und nähert sich immer weiter dem Abgrund. Ob die libanesische Bevölkerung noch an eine Wendung zum Guten glauben kann? Die Diplomatin Schmutz Kirgöz meint lediglich: «Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.»

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