Wiederaufbau nach Flutkatastrophe in Deutschland
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Das Dorf am Krater – bald vier Monate nach der Flut
Wie geht Wiederaufbau?

Vor dreieinhalb Monaten rissen Wassermassen in Deutschland Häuser und Lebensträume mit. Der Staat hat Milliarden an Hilfe gesprochen, doch viele Betroffene warten. Eine Reportage aus Erftstadt bei Köln über die Bürokratie des Wiederaufbaus.
Publiziert: 07.11.2021 um 15:47 Uhr
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Aktualisiert: 30.11.2021 um 11:22 Uhr
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Er hat bei der Flut in Deutschland viel verloren: Martin Spoo (66), Pferdezüchter. Eines seiner Häuser stürzte ein. Auch der vordere Teil der Reithalle brach ein.
Foto: Matthias Jung/laif
Karin A. Wenger (Text) und Matthias Jung (Fotos)

Das Haus, in dem Martin Spoo (66) und seine Frau alt werden wollten, ist in den Krater gestürzt. Er zeigt kurz auf die leere Stelle, wendet sich ab: «Ich kann es nicht ertragen.» Vom Haus aus hätten die beiden auf ihr Lebenswerk gesehen: einen Pferdehof. Seit mehreren Generationen bildet die Familie Pferde aus fürs Dressur- und Springreiten, züchtet sie, weltweit renommierte Tiere, sagt Spoo. Auch in der Schweiz haben sie Kunden.

Der Hof stand neben einem Feld. Nun klafft dort eine gigantische Grube. Eine der Reithallen ist eingestürzt, eine andere muss er vielleicht abreissen. Hof, Ställe und mehrere Häuser benötigen Reparaturen. Freunde und Fremde haben geholfen, die Trümmer wegzutragen. Nun stünde der Aufbau an.

«Ich weiss gar nicht, wo wir anfangen sollen», sagt Spoo an diesem Tag Ende Oktober.

Foto: Blick Grafik

In der Nacht auf den 15. Juli überspülte eine Flutwelle Blessem, einen Ortsteil von Erftstadt, 20 Kilometer südwestlich von Köln. Erst sammelten sich Wassermassen in der örtlichen Kiesgrube, dann sackte plötzlich der Boden rundherum weg. Ein Krater entstand, über zehn Meter tief. Mehrere Häuser stürzten in den Abgrund, Autos wurden weggespült, Kanalisationsrohre freigelegt. Der Stadtteil Blessem mit 1900 Einwohnern wurde zu einem der Symbole des Hochwassers. Noch immer können die Menschen hier kaum glauben, dass niemand gestorben ist.

30 Milliarden Euro Aufbauhilfe

Dreieinhalb Monate ist das her, und nun versuchen die Familien in Erftstadt, aus den feuchten Mauern wieder ein Zuhause zu machen. Eines der Probleme des Wiederaufbaus: Nur die Hälfte der Haushalte sind gegen Elementarschäden versichert, in Blessem sind es laut Bürgerforum sogar weniger als ein Drittel – alle anderen müssten Schäden von Hochwasser oder Erdbeben also selbst bezahlen. Anders als in der Schweiz sind Elementarschäden ein freiwilliger Baustein der Gebäudeversicherung.

Doch am Geld dürfte der Wiederaufbau kaum scheitern. Das Parlament und die Bundesländer stellten 30 Milliarden Euro zur Verfügung, landesweit spendeten Menschen. Aber die Einwohner warten auf das Geld, sind ungeduldig, der Winter naht. Politikerinnen und Experten schätzen, dass der Wiederaufbau Jahre dauern wird. Wie baut man ein Gebiet auf, das von der Natur so stark zerstört wurde?

Seit Mitte September können Menschen und Unternehmen beim Aufbaufonds Anträge stellen. Auch Pferdezüchter Martin Spoo versicherte sich nie gegen Elementarschäden. Er wollte Aufbauhilfe beantragen. Aber alle in seinem Umfeld, die er um Hilfe bat beim Ausfüllen der Dokumente, winkten ab: Seine Schäden seien zu kompliziert, das lasse sich nicht beschreiben in den vielen vorgegebenen Feldern des Onlineantrags.

Bürokratie und Einzelschicksale

Das System des Aufbaufonds basiert auf ihm: Fritz Jaeckel (58), der die Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen leitet. Am 14. Juli sass er in seinem Büro, schaute aus dem Fenster und dachte, so einen starken Regen habe er das letzte Mal vor dem Hochwasser 2013 gesehen. Am Abend holte er mit Eimern Wasser aus seinem Keller in Münster.

Zwei Wochen später kam die Anfrage, ob er Beauftragter für den Wiederaufbau sein möchte. In der Nacht darauf habe er schlecht geschlafen, denn er wusste genau, was auf ihn zukommt: Schon zwei Mal leitete er den Wiederaufbau nach einem Hochwasser, erstellte in dieser Zeit Dokumente und Pläne, auf die sich derzeit alle stützen.

Nun tourt der Jurist durch die Flutgebiete, hört die Sorgen der Menschen, teilt sein Wissen, erklärt die Bürokratie. Dann meldet er der Politik und Verwaltungen auf den verschiedenen Ebenen, wo der Wiederaufbau hapert. Er ist gleichzeitig Diplomat für die Menschen ganz unten und die ganz oben.

Können bürokratische Richtlinien überhaupt zur Realität des Lebens passen? Jaeckel, ein eloquenter Redner, antwortet mit unkonkreten Sätzen, sagt dann: «Sie merken, mir fällt die Antwort schwer.» Doch sein Ziel ist klar: Er will das System der Aufbauhilfe perfektionieren, sodass niemand durch die Maschen fällt.

System für Ältere zu kompliziert

Selbst wenn jeder Einzelfall zu einer Richtlinie passen würde: Das System bleibt kompliziert. Besonders ältere Menschen sind überfordert mit dem Onlineantrag. Eine von ihnen ist die Nachbarin von Spoo, Waltraud Groten (78), die mit ihrem Mann in einem der letzten Häuser wohnt, das oben am Krater stehen blieb. Die beiden haben noch nie in ihrem Leben einen Computer bedient. Als sie im Rathaus um Hilfe fragten, sagten ihnen die Mitarbeiter, sie dürften aus Gründen des Datenschutzes nicht helfen. Dieses Problem sei mittlerweile behoben, erklärt der Pressesprecher der Bürgermeisterin auf Anfrage. Die Betroffenen könnten nun via Formular diesen Datenschutz aufheben.

Er wisse, sagt Jaeckel, dass das System für manche zu kompliziert sei. Manchmal sage er den Leuten: «Denken Sie daran, es ist auch Ihr Steuergeld, das verwendet wird.» Er orientiere sich am Niveau von Steuererklärungen, die viele online ausfüllten. Und vor Ort sagt er über die Anträge oft: «Überlegen Sie – und dann machen Sie einfach mal.» Für ältere Menschen, das sei klar, brauche es aber Hilfsangebote.

Groten half schliesslich ihr Sohn, doch ihnen stellen sich – wie vielen anderen – nächste Probleme. Ein Gutachter muss die Schäden bestätigen, aber diese sind mit so vielen Fällen beschäftigt, dass niemand weiss, wann man das Gutachten erhält.

Das Ehepaar, das derzeit provisorisch in einem Nachbarort wohnt, möchte rasch zurück. «Das hier ist unser Zuhause, mein Mann hat das Haus vor 52 Jahren gebaut», sagt sie. Bloss: Ihnen fehlt das Geld, um den ganzen Wiederaufbau vorauszuzahlen. Sie war Friseurin, er Vorsteher in einer Fabrik. Sie arbeiteten viele Jahre, hofften auf ein schönes Leben in der Pension. Und nun durchdringt ihr Haus ein beissender Geruch, weil dem Nachbarn die Heizung ausgelaufen ist und sich das Öl auch in ihre Wände frisst.

Im Jahr 2002, als Jaeckel nach dem Hochwasser in Sachsen die ersten Erfahrungen mit dem Wiederaufbau machte, lief das Prinzip anders: Hilfe sofort auszahlen, dann prüfen. Später mussten Menschen Gelder zurückzahlen, weil sie oft unverschuldet zu viel erhalten hatten. Aus diesem Fehler hat Jaeckel gelernt, deshalb wird nun zuerst geprüft.

Überall fehlen Handwerker

An diesem Tag Ende Oktober besucht er in Erftstadt Sportvereine auf einer zerstörten Anlage. Ein Mann vom Tennisklub erklärt, sie fänden keine Handwerker, die Tennisplätze wieder aufbauten. Dabei müsse es zügig gehen, von den 350 Mitgliedern seien schon 30 ausgetreten. Jaeckel hört zu, nickt verständnisvoll und verspricht, ihn mit Kontakten zu Handwerkern in Ostdeutschland zu verbinden.

Später sagt er: «Wenn ich mein Wissen so vermitteln kann, dass es anderen hilft, dann ist es für mich ein guter Tag.» Das Problem der fehlenden Handwerker habe er erwartet, das höre er zurzeit überall. Deshalb hoffe er auf Hilfe von anderen Regionen. «Auch Schweizer wären hier sehr willkommen, denn das sind gute Handwerker.»

Als Gegenpol zum bürokratischen staatlichen System sieht sich das Bürgerforum in Blessem. Über 200'000 Euro sind auf seinem Spendenkonto eingegangen. Gottlieb Richardt (73), der Geschäftsführer, hat früher bei der Bundeswehr Artillerieschulen in der Türkei, in Delhi und im Baltikum beraten. So effizient wie damals gehen er und sein Team nun die Hilfe beim Aufbau an.

Im Baumarkt bestellen sie kübelweise Farben, Tapeten oder Hunderte von Steckdosen, die sie in einer Garage lagern. Die Menschen in Blessem holen ab, was sie brauchen. Zudem zahlt das Bürgerforum auch kleinere Geldbeträge aus. «Das sind nur Gesten», sagt Richardt, doch er sehe, wie Betroffene kurz strahlten, wenn sie Material abholten. Das Bürgerforum vermittelt ihnen: Es geht voran.

Die Menschen werden wütend

Allerdings sind die Leute vom Bürgerforum auch Blitzableiter. Richardt geht gerade durchs Dorf, als ihn eine Passantin mit aggressivem Ton fragt: «Hallo, wann kommt denn die Auszahlung rüber?» – «Wir sind dran», antwortet er ruhig. «Ich wundere mich, wieso das so lange dauert!», ruft die Frau.

Selbst das Bürgerforum unterliegt Richtlinien. Die Bank limitiert, wie viel Geld es pro Tag auszahlen darf. «Die Gier ist teilweise kaum zu ertragen», sagt Richardt. Manche Leute schickten ihm unverschämte E-Mails oder Nachrichten auf Whatsapp. Diskutieren möge er nicht, er verteile die Gelder, so schnell er könne. Und eben, die allermeisten schätzten die Hilfe.

Wahrscheinlich muss das Bürgerforum für den Frust herhalten, weil es der einzige Geldgeber ist, der den Anwohnerinnen und Anwohnern auf der Strasse begegnet.

Angefeindet wird auch Martin Spoo. Sein schmaler Körper, dem man ansieht, dass er grazil auf Pferderücken sass, wirkt nun zerbrechlich. Die Leute werfen ihm vor, er sei doch reich. Es stimme, dass er viel besitze, sagt er. «Mir geht es um unser Leben, das ich weitergeben möchte, um die Zukunft meiner Kinder und Enkel.» Er bezahlt zurzeit Zinsen von Krediten für Häuser und Boden, die nicht mehr existieren. Zusätzlich hat er einen Pachtvertrag unterschrieben für einen Hof 30 Kilometer weit weg. Als die Flut kam, verschickte seine Tochter via Facebook einen Hilferuf – aus der ganzen Region fuhren Transporter an, die die 60 Pferde retteten. Er will zurück auf seinen Hof, das sei klar. «Ich weiss nur manchmal nicht, ob ich das durchhalte.»

Alltägliche Belastung

Was den Wiederaufbau so anstrengend macht, geht weit über die Hilfsanträge hinaus. Es ist eine Masse an Kleinigkeiten eines Bürokratiestaates. Spoo erzählt: Kürzlich hat eine Angestellte der Gasversorgung bei ihm angerufen und nach dem Zählerstand vom 14. Juli für die Schlussrechnung gefragt. Als er antwortete, dass es das Haus nicht mehr gibt, habe sie entgegnet: «Fangen Sie nicht mit dieser Leier an.» Er hat wütend aufgelegt.

Auch die Rechnungen für die Strassenreinigung erhalte er weiter. Abmelden könne er die Häuser nicht, weil die Stadtverwaltung nach Nummern in Unterlagen frage, die mit der Flut weggespült wurden. Diese vielen Details machen ihn müde.

Die Verzweiflung der Menschen spürt auch Fritz Jaeckel auf seinen Touren. Oft ist er nicht nur Berater, sondern auch Seelsorger. Und er verkörpert die Hoffnung, dass ein Wiederaufbau möglich ist. Was er nicht mag, ist, wenn er fühlt, dass die Menschen den Anspruch haben, dass jemand für sie den Aufbau übernehmen müsse. «Wir sind in einer Notsituation, jeder muss seinen Beitrag leisten», sagt er. Es sei eine grosse solidarische Hilfeleistung des Staates, die nicht selbstverständlich sei. Also dürfe man auch erwarten, dass sich Bürger gewissen Regularien unterwerfen. Im Grundsatz geht es um die Frage, was die Aufgabe des Staates ist.

Wird das wieder ein Zuhause?

Wann immer sich die Anwohner von Blessem auf der Strasse begegnen, ist eine der ersten Fragen: «Wie weit bist du?» Sie möchten so schnell wie möglich zurück ins alte Leben. Die Verwaltungen hingegen sehen den Wiederaufbau als Marathon. Die Bürgermeisterin von Erftstadt plant mit fünf Jahren.

Spoo ist realistisch, er hofft, dass er in drei Jahren zurück auf den Hof kann. Sicher ist: Der Boden, auf dem das Haus stand, in dem er und seine Frau alt werden wollten, darf nicht mehr bebaut werden. Der Untergrund ist zu instabil. «In den erste Wochen habe ich mir immer wieder gesagt, dass wir das hinkriegen. Aber heute scheint mir das Ganze manchmal ausweglos», sagt er.

Wann ist der Wiederaufbau abgeschlossen? Wenn das Geld verteilt ist, wenn alle Gebäude renoviert sind, wenn Menschen wieder Tennis spielen, wenn sich die Einwohner wieder zu Hause fühlen? Fritz Jaeckels Mandat dauert noch bis Ende November. Er hofft, dass sein Terminkalender danach weniger wie Tetris ausschaut und er mehr Zeit für seine Frau und drei Kinder hat. «Meine Telefonnummer haben aber alle. Wenn mich ein Bürgermeister anruft, werde ich sicher nicht sagen, dass ich keine Fragen mehr beantworte.»

Einige Frauen haben in Blessem in grossen Töpfen an den Strassen Blumen gepflanzt. Das Bürgerforum will bald Lichterketten aufhängen und an einem Weihnachtsstand Glühwein ausschenken. «Wir versuchen, wieder etwas Leben nach Blessem zu bringen», sagt Gottlieb Richardt, der Geschäftsführer des Bürgerforums. Die Dorfkneipe aber, wo er sich mit den Vereinsfreunden und Martin Spoo jeden Donnerstag für ein Bier getroffen hat, bleibt auf ungewisse Zeit zu.

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