In den Stunden nach der Flutkatastrophe in Deutschland wird das Ausmass erst richtig sichtbar. Die Regenfluten haben sich verzogen. Tausende Menschen wurden wegen des Hochwassers obdachlos, viele bangen um ihre Existenz - und das Land zählt seine Toten. Bis am Freitagabend wurden in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz insgesamt 108 Todesopfer bestätigt. Vor allem das Grenzgebiet der beiden Bundesländer ist betroffen. Menschen starben in Sturzfluten, in zusammengestürzten Häusern, in überfluteten Kellern, durch Treibgut und Stromschläge. Wie bei einem Tsunami, mitten auf dem Kontinent.
Auch nach einem Tsunami dauert es wenn nicht Tage, bis alle Opfer gefunden sind und das Ausmass der Zerstörungen bekannt ist. In Deutschlands Katastrophengebiet sind viele Zufahrtswege zerstört, das Telefonnetz ist teilweise zusammengebrochen. Die Lage bleibt unübersichtlich. Längst sind noch nicht alle Opfer gefunden. Noch immer werden rund 1000 Menschen gesucht. «Die Befürchtung ist, dass es noch mehr werden», sagte ein Polizeisprecher in Bezug auf mögliche Todesopfer. Familien und Angehörige geben die Hoffnung nicht auf, dass die Vermissten irgendwo Unterschlupf gefunden haben und sich bald melden.
«Bilder wie aus dem Krieg»
Und der Schrecken ist noch nicht vorbei. In Erftstadt in Nordrhein-Westfalen droht weiterhin ein ganzer Stadtteil in einem Erdloch zu versinken. Unterspülte Häuser nahe einer Kiesgrube stürzten ein, andere wurden gleich vom riesigen Sinkloch geschluckt. Und auf der überfluteten Bundesstrasse 265 in Erftstadt ist unklar, ob es alle lebend aus ihren Autos und Lastwagen geschafft haben. Menschen wurden von den Wassermassen überrascht und in Fahrzeugen eingeschlossen.
Szenen wie in einem Endzeitfilm. Die Bilder aus Deutschland, aus der Mitte Europas, «sind wie aus dem Kriegsgebiet», sagt Markus Ramers, Landrat des von der Katastrophe betroffenen Kreises Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Der Kreis zählt zu den am schwersten von der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten. Soweit könne er 24 Todesfälle bestätigen, doch es würden immer mehr, sagte Ramers dem «Kölner Stadt-Anzeiger».
Bilder von überschwemmten Gebieten, die wie ein Schlachtfeld anmuten: Schlamm, Bäume, Geröll, Auto-, ja Lastwagenwracks und Häuserruinen, wo einmal Dörfer und Strassen waren. Aus dem Schlamm steigt unangenehmer Gestank. Auch zahllose Tiere kamen in den Flutmassen um. Unweigerlich wird bald Verwesungsgeruch über den schlimmsten Stellen liegen. «Es gibt ganz viele Dörfer, die nicht mehr so aussehen, wie man sie kennt», so Landrat Ramers. «Das sind Umstände, wie man sie sonst aus Kriegsgebieten kennt.» Die Situation sei «psychisch sehr belastend».
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Die Angst vor mehr Regen
Viele Gebiete - rund 100'000 Menschen - sind ohne Strom und die Lage bleibt kritisch. Weitere Dämme können brechen. Die grosse Angst, so Ramers: Dass es wieder zu regnen beginnt. Geröll und Schlamm würden viele Abflusswege verstopfen.
Der Regen hat sich verzogen, doch in der Nacht auf Samstag und am Wochenende gehen die Such- und Rettungsarbeiten weiter. Vielerorts sinken die Pegelstände, doch einige Orte bleiben evakuiert. Noch immer sind manche Siedlungen völlig von der Aussenwelt abgeschnitten, Rettungskräfte versuchen zu ihnen vorzudringen.
Malu Dreyer (60), die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, spricht von einer «nationalen Katastrophe». «Das Leid nimmt heute so dramatisch zu», sagte Dreyer am Freitag, als immer mehr Tote geborgen wurden und die Ausmasse der Zerstörungen erst nach und nach sichtbar wurden. Viele haben alles verloren: Hab und Gut, auch Familie, Verwandte, Freunde. Vielen bleiben nur noch Tränen.