An Henry Kissinger scheiden sich bis heute die Geister. Für die einen ist der frühere US-Aussenminister mit dem fränkisch gefärbten Englisch einer der brillantesten strategischen Köpfe des 20. Jahrhunderts.
Die anderen sehen in Kissinger einen zynischen Machttaktiker, der ruchlos US-Interessen durchsetzte und dabei Menschenrechte missachtete. Dass die in Fürth geborene Diplomatie-Legende, die am Samstag 100 Jahre alt wird, einen riesigen Einfluss auf die internationale Politik hatte – darin sind sich Bewunderer und Kritiker einig.
Kein deutscher Emigrant hat es in der US-Politik derart weit gebracht wie Kissinger. Geboren wurde Heinz Alfred Kissinger am 27. Mai 1923 in Fürth als Sohn einer jüdischen Lehrerfamilie. 1938 flohen die Kissingers vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die USA, aus Heinz wurde Henry, 1943 folgte die Einbürgerung in der neuen Heimat. Als US-Soldat kehrte Kissinger während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurück und half unter anderem, NS-Schergen aufzuspüren.
«Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht»
Auf die Zeit bei der US-Armee folgte eine glanzvolle Wissenschaftskarriere an der Universität Harvard. Mit seinen Analysen zu Verteidigungsstrategie und Atomwaffen machte der Politikwissenschaftler auf sich aufmerksam und begann die US-Regierung zu beraten.
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Als der Republikaner Richard Nixon (1913-1994) 1969 als Präsident ins Weisse Haus einzog, machte er Kissinger zu seinem Nationalen Sicherheitsberater und 1973 zusätzlich zum Aussenminister. Kissinger wurde zum Inbegriff des Realpolitikers, der sich praktisch nicht von Ideologie oder moralischen Vorstellungen leiten liess – im Guten wie im Schlechten. Stattdessen trieben ihn Einflusswahrung der USA, aber auch die Erhaltung einer weltweiten Machtbalance an.
Er bekam den Friedensnobelpreis
So trieb Kissinger eine Entspannung der Beziehungen zum Erzrivalen Sowjetunion voran und war massgeblich an der Entstehung des Rüstungskontrollvertrags SALT I im Jahr 1972 beteiligt. Er leitete auch eine vorsichtige Annäherung an das kommunistisch regierte China ein. Berühmt ist Kissinger zudem für seine «Shuttle-Diplomatie» im Nahostkonflikt, in dem er mit einer Vielzahl von Reisen vermittelte.
1973 wurde er zusammen mit dem nordvietnamesischen Chefunterhändler Le Duc Tho (1911-1990) für ein Waffenstillstandsabkommen im Vietnamkrieg gar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Es ist aber eine der umstrittensten Entscheidungen in der Geschichte des Preises: Tho lehnte die Ehrung ab, weil der Krieg trotz des Abkommens weiterging. Kissinger selbst wollte den Preis später zurückgeben.
Mitverantwortung für Putsch, Massaker ignoriert
Denn so sehr er als Pragmatiker eine Entspannungspolitik mit Gegnern befürwortete, so rasch war er bereit, humanitäre und demokratische Prinzipien für die Erreichung politischer Ziele über den Haufen zu werfen. So hatte er im Vietnam-Krieg nicht nur mit dem Feind verhandelt, sondern auch die Bombardierung der Nachbarländer Laos und Kambodscha propagiert, weil durch diese Waffen nach Nordvietnam gelangten.
Auch abseits des Vietnamkrieges ist die Liste der Vorwürfe gegen den Ex-Diplomaten lang. Kissinger ist für die Mitverantwortung beim Putsch in Chile 1973 scharf kritisiert worden – damals halfen die USA dem rechtsextremen Armeegeneral Pinochet, eine gewählte sozialistische Regierung zu stürzen und ein Terrorregime zu errichten. Ebenso ignorierte Kissinger von Pakistan während der Bangladesch-Kriegs 1971 begangene Massaker und billigte Indonesiens blutigen Einmarsch in Ost-Timor 1975.
«Schmerzhaft amoralisch»
«Gelegentlich schien er geradezu schmerzhaft amoralisch», schreibt sein Biograf Walter Isaacson. Kritiker bezeichneten Kissinger sogar als Kriegsverbrecher. Später räumte der sonst so selbstbewusste Kissinger ein, niemand könne sagen, er habe in einer Regierung gearbeitet, die keine Fehler gemacht habe.
Solche Töne sind für den Mann aber eher ungewöhnlich. Schon Nixons Nachfolger Gerald Ford (1913-2006), dem Kissinger bis 1977 ebenfalls als Aussenminister diente, nervte dessen Rechthaberei: «Henry ist überzeugt, niemals einen Fehler gemacht zu haben», sagte Ford.
Viel gefragter und einflussreicher Berater
Als Ford 1976 die Präsidentschaftswahl gegen den Demokraten Jimmy Carter (98) verlor, war es vorbei mit Kissingers Ministerkarriere. Der Stratege mit der markanten knorrigen Bass-Stimme blieb aber in den folgenden Jahrzehnten ein in Washington viel gefragter und einflussreicher Berater. Sein Wort hat bis heute Gewicht. Als Buchautor befasst er sich auch im hohen Alter mit Themen wie Weltpolitik und Diplomatie, aber auch den Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz.
Auch zum Ukraine-Krieg äusserte er sich – und behauptete kürzlich in einem Interview mit der «Zeit», nicht «alle Schuld» liege beim russischen Präsidenten Wladimir Putin (70). Als Ultrarealist und Machtpolitiker sah er die Annäherung der Ukraine an den Westen kritisch – Selbstbestimmungsrecht der Ukraine hin oder her: «Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind.» Jetzt aber sei es besser für den Westen, «die Ukraine in die Nato aufzunehmen», fügte die Diplomatie-Legende hinzu.
Mit solchen Analysen hat sich Henry Kissinger viele Bewunderer, aber auch viele erbitterte Gegner ein. «Auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit entzündeten sich an Kissinger kontroverse Meinungen», urteilt sein Biograf Walter Isaacson. «Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium.» (AFP/jmh)