Am einen Ende des Kontinents bejubeln sie die Siege gegen einen Tyrannen, am anderen Ende Europas betrauern sie den Tod einer Monarchin und trösten sich damit, dass da ja schon ein neuer König in den Startlöchern steht. Die Alte Welt wirkt in diesen Tagen politisch schizoid. Der ungebrochene Wille zur Demokratie, die an der Ostflanke mit Schweiss und Blut verteidigt wird? Der ist im vorgelagerten Westen Europas in diesen Tagen faktisch erloschen.
Man mag den Briten den royalen Rummel um den Tod ihrer Queen verzeihen. Das Inselreich findet in der Trauer um die verstorbene Langzeit-Königin nach Jahren des politischen Zwists (Brexit, Boris, Gaspreiskrise) endlich wieder eine Prise Einigkeit: Da ging eine grosse Frau verloren, ein Vorbild, eine wahre Mater populi.
Fast 100 Millionen Franken kostet die Königsfamilie die Steuerzahler pro Jahr
Doch in die Trauer um die Verstorbene mischt sich eine sonderbare Verklärung der aus der Zeit gefallenen Staatsform der Monarchie. Kritische Voten zur antiquierten Institution duldet man nicht. Demonstranten, die mit «Nicht mein König»-Schildern protestierten, werden von der Polizei unsanft abgeführt.
Dabei ist eine kritische Debatte über die Zukunft der britischen Monarchie dringend nötig. Deren Abschaffung bleibt zwar ein Wunschdenken republikanischer Splittergruppen im Königreich. Um tiefgreifende Reformen aber kommt der Buckingham Palace nicht herum, wenn er seine 67 Millionen Untertanen im eigenen Land nicht gegen sich aufbringen will.
Umgerechnet fast 100 Millionen Franken kostet der Unterhalt der königlichen Familie die britischen Steuerzahlenden pro Jahr. Die Royals selber müssen keine Steuern zahlen – auch nicht auf die gewaltigen Erbschaften, die nach dem Tod der Queen jetzt an ihre Kinder übergehen. Diese finanzielle Sonderstellung ist Wasser auf die Mühlen des Volkszorns, der angesichts der exorbitant steigenden Preise für Strom und Lebensmittel auf der Insel zu überborden droht.
Verschlankungsvorbild Norwegen
Genauso verstörend wirkt der Umgang des Königshauses mit dem mutmasslichen Sexualstraftäter Prinz Andrew. Der konnte sich in diesem Jahr mit einer aussergerichtlichen Einigung mit einem seiner mutmasslichen Opfer gerade nochmals vor dem Gang vor Gericht retten. Verständlich, dass Andrew und die Familie, die sich schützend vor ihn stellt, in den vergangenen Tagen immer wieder ausgebuht wurden.
Das Risiko für Charles III. ist gross, dass die Kritik am monarchischen System nach dem Abklingen der Trauer über den Tod der Queen in offene Verachtung für die schwerreichen Sondergestellten des königlichen Hofes umschlagen könnte. Mehrere Länder des Commonwealth – des losen Verbands der britischen Ex-Kolonien – denken bereits offen über eine Loslösung vom Königreich nach.
Um den Ablösungstendenzen entgegenzuwirken, das Andrew-Problem zu lösen und die exorbitanten Kosten zu senken, könnte Charles das tun, was etwa das norwegische Königshaus längst getan hat: die Monarchie verschlanken, royale Nutzniesser von der Lohnliste streichen, freiwillig Steuern zahlen (wie Elizabeth II. das zuletzt getan hatte) und sich demonstrativ in Bescheidenheit üben. Ein grosser König kann Charles III. nur werden, wenn er den Mut hat, kürzerzutreten.