«Jeder dachte irgendwie, dass sie für immer lebt»
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Britin vor dem Palast:«Jeder dachte irgendwie, dass sie für immer lebt»

Das Königreich im Schockzustand
«Die Queen war für mich wie eine Grossmutter»

Hunderttausende strömen zum Buckingham-Palast, um der verstorbenen Queen die letzte Ehre zu erweisen. Schweizer Besucher reagieren verwundert auf das Spektakel. Die Briten aber klammern sich mit aller Kraft an ihre Tradition. Besuch in der trauernden Weltstadt.
Publiziert: 10.09.2022 um 23:59 Uhr
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Hunderttausende Briten strömen in diesen Tagen zum Buckingham-Palast, um der verstorbenen Queen die letzte Ehre zu erweisen.
Foto: MARK CHILVERS
Samuel Schumacher und Karin Frautschi aus London

Die spinnen, die Briten, dachte sich Cordelia Hagi (57), als sie sich am Samstag durch die menschenverstopften Strassen von London kämpfte. Eigentlich hatte sie mit dem Bentley Club eine Vergnügungsfahrt quer über die britische Insel geplant. Dann starb die Queen. Alles wurde abgesagt. Seis drum: Royals statt Roadtrip. Doch soooo viele Menschen hier? Das hätte sich die Berner Künstlerin nie gedacht. «Aber irgendwie spinnen sie ja auf eine positive Weise», sagt Cordelia Hagi, ganz in Pink von den Schuhen bis in die ausfransenden Haarspitzen. «Ich bin beeindruckt, wie viel Energie das Königshaus diesem Volk hier gibt.»

Für Schweizer Besucher ist das Geschehen in London in diesen Tagen tatsächlich nur schwer nachvollziehbar. Hunderttausende Menschen strömen zum Buckingham-Palast im Zentrum der Weltstadt. Wie blumentragende Ameisen wimmeln sie dicht gedrängt durch die Strassen rund um den royalen Hauptsitz und drängeln schweigend in Richtung des Prachtbaus, um der verstorbenen Monarchin die letzte Ehre zu erweisen.

«Sie war für mich wie eine Grossmutter. Ich habe sie verehrt», sagt der elfjährige Kye aus Essex. Er hat sich in den Union Jack gehüllt, die Nationalflagge des Vereinigten Königreichs, und trägt Blumen im Arm. «Ich wünsche König Charles III., dass er sich schnell von diesem schweren Verlust erholen kann.»

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Warum alles Wichtige im Königreich immer um 11 Uhr stattfindet

Charles III., das 13. Oberhaupt des Vereinigten Königreichs, scheint den ersten Schock gut verdaut zu haben. Am Freitagabend dankte der neue britische König in seiner allerersten Rede an die Nation noch einmal seiner «Mama». Auch dem britischen Volk sprach er seine Dankbarkeit für all die guten Gedanken und Ehrerweisungen aus.

Gestern Samstag dann der grosse Moment: Im St James's Palace, dem offiziellen Amtssitz des britischen Königshauses unweit des Buckingham-Palasts, wurde Charles Philip Arthur George, der älteste Sohn der verstorbenen Queen, um 11 Uhr hochoffiziell als neuer König ausgerufen. «Alles Wichtige in Grossbritannien findet immer um 11 Uhr unserer Zeit statt», erklärt ein Mann dem SonntagsBlick-Reporter im Flüsterton. «Damit ist sichergestellt, dass auch der hinterste Winkel unserer Ex-Kolonien einigermassen wach ist und live mitkriegt, was wir so tun.»

Kurz vor der Verkündung tritt die Königsgarde mit ihren kurligen Bärenfellmützen in den Innenhof des fast bescheiden wirkenden Backsteinpalasts. Zehntausende haben versucht, hierhin zu gelangen, um die Verkündungsshow auf dem Palastbalkon live mitzuverfolgen. Rund 1000 haben es geschafft. Dazu kommen die Ehrengäste: Die beiden Ex-Premiers Gordon Brown (71) und David Cameron (55) stehen da, mucksmäuschenstill, den Blick gebannt auf den Balkon gerichtet. Ein Vorhang hinter dem Balkon schiebt sich ein bisschen zur Seite. Spienzelt da der neue König auf die Menge? Schwer zu sagen.

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Charles III. und die geglätteten Schnürsenkel

Trompeten ertönen, die königliche Bärenfellmützengarde steht stramm, goldbestickte Würdenträger treten auf den Balkon, die Menge zückt die Smartphones. «In Übereinstimmung mit unseren Zungen und Herzen», erklärt der Sprecher des sagenumwobenen Thronbesteigungsrats, dem die Verkündigung des neuen Monarchen obliegt, Charles zum neuen König. Laute «Hipp, hipp, hurra!»-Rufe ertönen von den vollen Strassen rund um den Palast. Bärenfellmützen werden zurechtgerückt. Wieder Trompeten. Die offizielle Verkündigung ist eine von vielen nur schwer verständlichen Traditionen rund um die Machtübertragung von Elizabeth II. auf Charles III. Viele weitere werden folgen, bis die Dinge im Königreich wieder so sind, wie sie sein sollen und müssen.

Wie sie dann genau werden, darauf sind die Menschen gespannt. «Ich hoffe, der neue König ist etwas mediengeiler als seine Mutter», sagt der Künstler Steven Openshaw (60) aus Manchester, der es als einer der wenigen in den Innenhof vor den Verkündigungsbalkon geschafft hat. «Ich möchte ihn gerne häufig hören und sehen!»

Eine Revolution des Königshauses aber erwartet niemand von Charles III. Gut möglich, dass er den Buckingham-Palast einer Verschlankungskur unterzieht, um die Unterhaltskosten des royalen Hofs zu reduzieren. Knapp 100 Millionen Franken kostet das Königshaus die britischen Steuerzahlenden jedes Jahr: viel Geld in einer Zeit, in der knapp die Hälfte der Menschen die Stromrechnungen kaum noch bezahlen kann. Charles III. könnte klein anfangen – bei sich selbst, zum Beispiel. Schon als Prinz beschäftigte er angeblich einen Angestellten, der nichts anderes tat, als seine Schnürsenkel zu bügeln.

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Der Schweizer Botschafter hängte die Fahne eigenhändig auf halbmast

Guter Dinge, was den neuen König betrifft, ist auch Markus Leitner (56), seit 2021 Schweizer Botschafter in London. Leitner empfängt das Blick-Team in seiner Botschaftsresidenz neben dem Londoner Hyde Park. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Lindorkugeln, vor dem Haus weht die Schweizerfahne im frühherbstlichen Wind. Er habe sie eigenhändig auf halbmast gesetzt, erzählt Leitner.

«Der Tod der Queen ist einer jener Momente im Leben, von denen man immer wissen wird, wo man war, als man es erfahren hat», erzählt der Spitzendiplomat. «Ich war im Locarno Room, dem schönsten Raum des britischen Aussenministeriums. Das Treffen wurde nach der Bekanntgabe sofort abgebrochen.» Er selber habe am Tag nach der traurigen Nachricht mit allen Mitarbeitenden das Gespräch gesucht. «Die Trauer reicht weit über die britische Gesellschaft hinaus bis hierhin zu uns in die Botschaft.»

Grossbritannien aber werde das packen. Das königliche Motto «Keep calm and carry on» («ruhig bleiben und weitermachen») sei dem Land eingeimpft. Das hätten die vergangenen Tage deutlich gezeigt. Und das sei für die Briten vielleicht eine wertvolle Erfahrung.

Ganz ähnlich wie der Schweizer Botschafter tönt auch James, der mit seinen beiden Kollegen vom «Billy Graham Rapid Response Team» vor dem Buckingham-Palast steht. Die drei Freunde sind Angehörige der evangelikalen Bewegung aus den USA und hier, um für die Menschen zu beten. «Die öffentliche Trauer hier ist bewegend», sagt James. «Und: Sie erlaubt den Menschen, über ihre eigenen traurigen Erfahrungen zu reden. Das heilt.» Und die Königin? «Sie ist lebendiger denn je», sagt James. «Sie hat nur ihre Adresse geändert – vom Buckingham-Palast in den Himmel.» Der strahlt an diesem Samstag über London, trotz anderslautender Vorhersage.

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