65 Tage brauchte Laura Hudson (41), um China zu verlassen. Die Amerikanerin hatte sechs Jahre an einer Highschool in der nordöstlichen Stadt Changun unterrichtet. Doch als sie im März in ihre Heimat Arizona zurückreisen wollte, sass sie plötzlich fest: Changun ging wegen weniger Corona-Fälle in den Knallhart-Lockdown.
Kein öffentliches Verkehrsmittel fuhr mehr, der Flughafen war geschlossen, die neun Millionen Einwohner sollten zu Hause bleiben. Weitere Städte folgten. Als Hudson es am 11. Mai endlich ausser Landes schaffte, weinte sie vor Erleichterung. «Ich dachte buchstäblich, ich wäre für immer gefangen», sagte sie der Nachrichtenagentur «Reuters».
Nur eines von vielen Beispielen für das aktuelle Corona-Chaos in China. Und es ist nicht die einzige Krise, die die chinesische Führung herausfordert. Staatspräsident Xi Jinping (68) steht vor drei grossen Problemen – und hat keine Strategie, um sie zu lösen.
1. Eine nachhaltige Corona-Strategie fehlt
Während die Welt gelernt hat, mit dem Virus zu leben, sperrt China seine Bürgerinnen und Bürger ein. Millionen von ihnen dürfen nicht mal zum Spazieren oder zum Einkaufen raus. Obwohl es etwa in Shanghai keinen einzigen Fall mehr gibt, geht der Knallhart-Lockdown weiter.
«Wir sehen bei allen Ländern, dass die Krisenmanagement-Strategie nicht einfach über den Haufen geworfen wird. Chinas Strategie war zu Beginn erfolgreich und Xi Jinping hängt an dieser Strategie», sagt die Asien-Expertin Linda Maduz (41), die sich am Center for Security Studies der ETH Zürich mit geopolitischen Fragen rund um China befasst, zu Blick. «Für Xi Jinping ist die Zero-Covid-Strategie eine Abgrenzung zum westlichen Modell. Sich davon abzuwenden, wäre ein grosses Eingeständnis.»
Lieber zensiert Jinping den WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus (57), der Chinas Corona-Strategie als «nicht nachhaltig» bezeichnete.
2. Die eigene Wirtschaft blutet aus
Lange schien der rasante Aufstieg Chinas unaufhaltsam. Doch die Corona-Massnahmen treffen Chinas Wirtschaft stärker als erwartet. Konsumentennachfrage und Industrieproduktion sacken ab. Und zwar stärker, als Analysten erwartet haben – und ohne Aussicht auf schnelle Erholung.
Die Einzelhandelsumsätze – der Indikator für die Konsumentennachfrage – brachen im April um 11,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat ein. Und die Produktionsanlagen stehen still, während die Chinesen zu Hause sitzen: Für die 25 Millionen Einwohner der Wirtschaftsmetropole Shanghai sind bereits mehrere Wochen vergangen.
Peking probiert, mit Steuererleichterungen und Konjunkturprogrammen entgegenzusteuern. Doch an der Hauptursache für den wirtschaftlichen Einbruch ändert das nichts.
Immerhin: Etwas wurden die Massnahmen gelockert. Der Hafen von Shanghai, der grösste Containerhafen der Welt, war Ende Mai nach Angaben des Finanzdienstleisters ING bereits wieder zu 90 Prozent ausgelastet, was wiederum die Ausfuhren per Schiff antrieb.
Experten rechnen aber damit, dass die Erholung des Aussenhandels nur kurzfristig sein könnte. China dürfte demnach an seiner strikten Null-Covid-Politik festhalten, die der Wirtschaft des Landes bereits schweren Schaden zugefügt hatte.
3. Putin ist ihm peinlich
Offiziell fällt Peking Moskau nicht in den Rücken. Den westlichen Sanktionen gegen Russland hat sich China nicht angeschlossen.
Doch hinter den Kulissen sieht es offenbar anders aus. So sind bisher weder mögliche Waffenlieferungen erfolgt, noch laufen die Wirtschaftsbeziehungen normal weiter. Wie die «Washington Post» berichtet, haben chinesische Tech-Firmen keinen Bock mehr auf Handel mit Russland. Entsprechend sind die Exporte etwa bei Laptops, Smartphones und Ausrüstung für Netzwerke dramatisch eingebrochen. Russland von moderner Technik abzuschneiden, war ein Ziel der westlichen Sanktionen.
Der britische Verteidigungsminister verriet, dass Xi Jinping zunehmend «peinlich berührt» von Putins Verhalten und der miserablen Kriegsführung ist. «Die Beziehung zwischen Russland und China ist seit den Neunzigern gewachsen, davon lässt man nicht schnell ab. Aber man sieht in Sachen Ukraine eine Anpassung», beobachtet Asien-Expertin Maduz. Mittlerweile dürfe man in China auch von «Krieg» sprechen.
In einer Videokonferenz mit seinem Aussenminister Sergei Lawrow (72) soll Putin sich «mehrmals abfällig und obszön» über Ji Xinping geäussert haben. Nach dem Frust über China habe sich Putin auch direkt an Lawrow gewandt und diesen für das Scheitern der Gespräche mit China verantwortlich gemacht, wie der Telegram-Kanal «General SVR» berichtet.
Wie gefährlich werden die Krisen Xi Jinping?
Der chinesische Staatspräsident sitzt grundsätzlich fest im Sattel. Seit 2013 ist er Parteichef, Staatschef und Armeechef. «Seine Macht hat er kontinuierlich ausgebaut und zentralisiert», sagt Linda Madzu. «Aber das Potenzial für Widerstand wächst. Die Gefahr besteht allerdings weniger auf der Strasse als eher in der eigenen Partei.»
Für die Legitimität von Xi Jinping ist der Umgang mit der Corona-Situation derzeit das dringlichste Problem. Denn dort ist am deutlichsten sichtbar: Es geht auch anders. Geht es nach der WHO, dann beendet China endlich die Null-Covid-Politik. Ende Mai hatte WHO-Notfalldirektor Michael Ryan (57) mit Blick auf Chinas Corona-Strategie gesagt, es sei Zeit für einen Neustart.