Christian Lindner über das FDP-Geheimpapier, den Ampel-Crash und das Verhältnis zur Schweiz
«Wir wollen den AfD-Wählern ein Angebot machen»

Der Chef der deutschen FDP sorgt auch nach dem Rauswurf aus der Regierung in Berlin für Schlagzeilen. Im Interview mit Blick sagt er, was er vom «D-Day»-Papier seiner Partei wusste und wie er Bundeskanzler Olaf Scholz vom Thron stossen will.
Publiziert: 07.12.2024 um 17:10 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2024 um 19:40 Uhr
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Guido FelderAusland-Redaktor

Was ist nur im grossen Kanton los? Die Wirtschaft stürzt in die Krise, die Regierung ist zerbrochen. Um sich den sparwütigen FDP-Finanzminister Christian Lindner (45) vom Hals zu schaffen, warf SPD-Kanzler Olaf Scholz (66) ihn Anfang November aus der Ampel-Regierung, die nun nur noch aus Roten und Grünen besteht. 

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Christian Lindner war von 2021 bis im 2024 deutscher Finanzminister.
Foto: IMAGO/Chris Emil Janßen

Ruhig wurde es danach um Lindner nicht. Ein internes Papier der FDP bewies, dass die Partei den Ampel-Bruch in einem Szenario vorbereitet hatte. In Anlehnung an den Tag der alliierten Invasion gegen Hitler war darin vom «D-Day» und «offener Feldschlacht» die Rede. Im Interview mit Blick, das per Videocall geführt wurde, spricht Lindner über die deutsche Krise, das Angebot der FDP an die Wähler der radikal rechten AfD sowie über die Schweiz. 

Herr Lindner, was tut ein entlassener Finanzminister?
Ich bin Parteivorsitzender und Abgeordneter und stecke bereits mitten im Bundestagswahlkampf. Wir treffen unzählige Bürgerinnen und Bürger, um sie für die notwendige Richtungsentscheidung zu gewinnen, welche die Ampelkoalition nicht treffen konnte und die unser Land deshalb bei den Neuwahlen im Februar treffen muss. 

Wenn Sie auf die vergangenen vier Wochen zurückblicken, was bereuen Sie am meisten?
Nach dem Scheitern der Regierung sind Fehler in unserer Kommunikation passiert. Das bedauere ich, weil dadurch ein falscher Eindruck über die Motive der FDP entstehen konnte. 

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Sie sprechen von dem internen FDP-Papier, das einen Bruch der Ampel skizzierte. Was wussten Sie wirklich davon?
Nein, ich spreche von den Verhandlungen in der Regierung. Als Parteivorsitzender verantworte ich die Entscheidung, entweder eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik zu erreichen oder Neuwahlen herbeizuführen. Die Parteizentrale hat dann alle Szenarien durchdacht. Dass ein unbedeutendes und unbekanntes Papier nun diese Bedeutung bekommt, hat auch mit Kampagnen unserer politischen Gegner zu tun.

Der geschasste Finanzminister

Der Wuppertaler Christian Lindner (45) wurde 2013 mit 34 Jahren zum jüngsten Bundesvorsitzenden der deutschen FDP gewählt, nachdem die Partei die Fünf-Prozent-Fraktionshürde für den Bundestag nicht geschafft hatte. Innert vier Jahren konnte Lindner die Stimmen für die FDP mehr als verdoppeln. 2021 wurde die Partei hinter SPD, Union und Grünen mit 11,4 Prozent der Stimmen viertstärkste Partei. Der studierte Politwissenschaftler amtete in der Ampelregierung drei Jahre lang als Finanzminister, bis ihn Kanzler Olaf Scholz entliess. 2022 heiratete der geschiedene Lindner Franca Lehfeldt (35), die damals als Reporterin bei RTL arbeitete und die in der Westschweiz Hotelmanagement und Betriebswirtschaftslehre studiert hatte.

imago/Future Image

Der Wuppertaler Christian Lindner (45) wurde 2013 mit 34 Jahren zum jüngsten Bundesvorsitzenden der deutschen FDP gewählt, nachdem die Partei die Fünf-Prozent-Fraktionshürde für den Bundestag nicht geschafft hatte. Innert vier Jahren konnte Lindner die Stimmen für die FDP mehr als verdoppeln. 2021 wurde die Partei hinter SPD, Union und Grünen mit 11,4 Prozent der Stimmen viertstärkste Partei. Der studierte Politwissenschaftler amtete in der Ampelregierung drei Jahre lang als Finanzminister, bis ihn Kanzler Olaf Scholz entliess. 2022 heiratete der geschiedene Lindner Franca Lehfeldt (35), die damals als Reporterin bei RTL arbeitete und die in der Westschweiz Hotelmanagement und Betriebswirtschaftslehre studiert hatte.

Kannten Sie das «D-Day»-Papier?
Nein. In dieser Form hätte ich es nicht gebilligt, wenn man es mir vorgelegt hätte. Aber ich habe kein Problem damit, wenn leitende Mitarbeiter alles durchdenken. Ich stelle bewusst nur Persönlichkeiten ein, die eigenverantwortlich denken und planen. Man muss mir auch nicht aufschreiben, was ich sagen soll.

Haben Sie den Bruch der Ampel bewusst herbeigeführt, war Ihre Empörung bei der Entlassung nur gespielt?
Den Bruch der Ampel hätte ich und habe ich dann ja auch in Kauf genommen, weil es keine Neuausrichtung der Politik gab. Bei der Entlassung war ich nicht empört, sondern getroffen. Immerhin musste ich mir von einem Menschen, mit dem ich in den drei Jahren davor mehr Zeit verbracht habe als mit den meisten Freunden und Familienmitgliedern, persönliche Herabwürdigungen anhören.

Damit meinen Sie Bundeskanzler Olaf Scholz. Er nannte Sie «kleinkariert» und «egoistisch».
Die Ampelkoalition basierte auf dem Trick von Herrn Scholz, 60 Milliarden Euro an Corona-Krediten umzubuchen. Das hat unser höchstes Gericht in einem historischen Urteil als verfassungswidrig verworfen. Ich habe mich weiteren Manövern dieser Art aus Respekt vor der Verfassung verweigert. Wie Herr Scholz das findet, haben Sie zitiert. Wie ich das finde, können Sie sich denken.

In der Schweiz gab es zunächst Häme, dann Mitleid, jetzt sorgen wir uns um Deutschland. Was ist eigentlich los mit Europas Nummer eins?
Deutschland verfolgte zehn Jahre eine Politik, die den Status quo mal ein bisschen nach links, mal ein bisschen nach rechts gedreht hat. Wohlstand ist nur umverteilt worden, aber nicht neu erwirtschaftet. Wir haben beim Klimaschutz und der Energie den weltweit einmaligen Weg gewählt, ohne Kernenergie fünf Jahre schneller sein zu wollen als der Rest der EU. Zudem liessen wir irreguläre Migration in unseren Sozialstaat zu. So wie bisher kann es nicht weitergehen.

Am 23. Februar finden Neuwahlen statt. Was erwarten Sie sich davon?
Deutschland braucht eine Wende. Nach einem Jahrzehnt der Lähmung und des zunehmend intervenierenden Staates brauchen wir jetzt Vertrauen in die Eigenverantwortung und Freiheit der Menschen, mehr Respekt vor Leistungsbereitschaft und unternehmerischem Risiko, mehr Freude am Erfinden als am Verbieten. Deutschland muss wieder zeigen, was in ihm steckt. 

Wer wird neuer Kanzler?
Höchstwahrscheinlich Friedrich Merz von der CDU. Entscheidend ist aber nicht der Kanzler, sondern die Koalition. Ein schwarz-grüner Merz wäre ein ganz anderer Kanzler als ein schwarz-gelber. Deshalb kämpfe ich für eine starke FDP im Februar. Denn die CDU ist wie ein Chamäleon: Sie nimmt immer die Farbe ihres Koalitionspartners an. Rot und Grün hatten wir jetzt genug. 

Finden Sie, dass die AfD in die Regierungsverantwortung einbezogen werden müsste?
Nein. Die AfD ist inzwischen eine so radikalisierte Partei, dass sogar Marine Le Pen auf europäischer Ebene nicht mit ihr zusammenarbeiten will.

Wie wollen Sie weitere Zuwächse für die AfD verhindern?
Indem wir ihren gemässigten Wählerinnen und Wählern ein Angebot machen. Wer die AfD nur aus Protest gegen Bürokratismus, ungesteuerte Einwanderung oder eine gefühlte Einschränkung der Meinungsfreiheit wählt, hat mit uns eine bessere Option. 

Sie wollen die FDP weiter rechts positionieren?
Nein. AfD-Protestwähler erhalten schon jetzt bei der FDP das bessere Angebot. Denn wer AfD wählt, steigert durch die Schwächung der bürgerlichen Mitte paradoxerweise den Einfluss der SPD und Grünen. 

Sie gelten als kostenbewusst, gradlinig, traditionell und innovativ – eigentlich gute Voraussetzungen für einen Minister. Warum wollen die Deutschen Sie dennoch nicht?
Ich habe immer polarisiert, weil ich in einem staatsorientierten Land leidenschaftlich für freisinnige Werte eintrete. Momentan ist meine Glaubwürdigkeit – da bin ich Realist – stark angegriffen. Nicht durch das Ende der Regierung, sondern durch die Regierungszeit selbst, als wir aus staatspolitischer Verantwortung mit der SPD und den Grünen eine Koalition eingehen mussten. 

In den Umfragen rutschte die FDP seit den letzten Wahlen von zwölf auf jetzt vier Prozent. Da braucht es eine Korrektur.
Ja. Die ist erfolgt, als wir beschrieben haben, dass Deutschland eine neue Politik oder neue Wahlen braucht. Es war für uns ausgeschlossen, ein weiteres Jahr so «rumzuscholzen» wie bisher. Die FDP ist für ihre Überzeugungen voll ins Risiko gegangen.

Müssten Sie jetzt nicht einer neuen Kraft Platz machen?
Natürlich prüfe ich mich immer wieder selbst. Ich war eines der Gesichter der gescheiterten Ampel, die der FDP Zustimmung genommen hat. Allerdings war ich auch derjenige, der die Politik der Ampel ändern oder beenden wollte. Das war eine Investition in neue Glaubwürdigkeit.

Sind Sie neidisch auf die Schweizer FDP? Die kommt auf rund 15 Prozent Stimmenanteil …
Einem Freisinnigen ist Neid auf Leistung fremd. Das unterscheidet ihn von manchem Linken. Die FDP Schweiz ist eine eng befreundete Partei. Ich freue mich, dass die FDP Schweiz weiter an Zustimmung gewinnt. 

Vor kurzem haben die Schweizer Stimmberechtigten einen Ausbau der Autobahnen abgelehnt. Wie hätten Sie gestimmt?
Ich hätte Ja gestimmt, denn ich glaube nicht, dass die Schweiz schon fertig entwickelt ist. Fortschritte in der Infrastruktur gehören zur Entwicklung einer Gesellschaft. 

Die Schweiz tut sich schwer mit der EU und wird auch immer mehr wegen ihrer Neutralitätspolitik kritisiert. Befindet sich die Schweiz aus Ihrer Sicht auf dem richtigen Weg oder müsste sie ihren Kurs korrigieren?
Die Schweiz und die EU müssen weiterhin tiefe und, wenn es nach mir geht, noch engere Beziehungen pflegen. Die EU muss aber respektieren, dass die Schweiz einen eigenen Weg geht. Allerdings darf der Begriff der Neutralität nicht mit Teilnahmslosigkeit verwechselt werden. Ich habe es bedauert, dass die Schweiz trotz deutscher Bitten keine Rüstungsgüter zur Weiterleitung an die Ukraine bereitgestellt hat: Sie verteidigt auch eidgenössische Werte wie Recht, Freiheit und Frieden.

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