Es herrscht eine Art neuer Kalter Krieg zwischen den USA und China. Dem waren sich internationale Beobachter der Situation sicher. In den letzten Monaten haben sich die Verhältnisse zwischen den beiden Weltmächten noch weiter verschlechtert. Die grösste und zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt liegen schon seit langem in zahlreichen wichtigen Fragen über Kreuz.
Der Überflug eines mutmasslichen chinesischen Spionage-Ballons über US-Gebiet Anfang des Jahres führten zu einer diplomatischen Krise. Die USA halten derweil Sanktionen aufrecht, die China den Zugang zu strategisch wichtiger Chip-Technologie verwehren sollen. Obendrein steht die von der kommunistischen Partei regierte Volksrepublik für ihre neutrale Haltung im Ukraine-Krieg und im Nahost-Konflikt zwischen Israel und der Hamas in der Kritik. Zuletzt sorgte ein chinesisches Kampfflugzeug, das sich laut US-Aussagen gefährlich nahe an einem Bomber der USA aufgehalten hatte, für Spannungen.
Doch seit einigen Tagen scheint Tauwetter zwischen China und den USA zu herrschen.
Normalisieren sich die Beziehungen?
Der chinesische Aussenminister Wang Yi (70) meinte an einem Treffen mit US-Aussenminister Anthony Blinken (61) am Freitag, dass man «Missverständnisse» mit den USA klären wolle. Die Beziehungen der beiden Staaten müssten wieder auf einen gesunden, stabilen und nachhaltigen Pfad gebracht werden. Blinken schlägt ähnliche Töne an. Auch auf der höchsten diplomatischen Stufe soll es jetzt schnell gehen: Bereits im November sollen sich die beiden Staatschefs – Joe Biden (80) und Xi Jinping (70) – in San Francisco treffen.
Doch weshalb die Eile? Simona Grano, China-Expertin an der Universität in Zürich, erklärt im Gespräch mit Blick: «Beide Länder sind dazu bereit, die Spannungen abzubauen. Viele geopolitische Fronten beschäftigen die USA und auch China – zu Hause, so wie im Ausland.»
Zwei Supermächte in der Krise
Tatsächlich: Im Ausland stehen die USA einer komplexen und feindseligen Welt gegenüber. Zum ersten Mal seit der Stagnation der Sowjetunion in den 1970er-Jahren gibt es eine ernsthafte, organisierte Opposition, angeführt von China. Im Inland wird die Politik von Dysfunktionalität und einer zunehmend isolationistischen Republikanischen Partei geplagt.
Die ausländische Bedrohung besteht aus drei Teilen. Die eine ist das Chaos, das der Iran im Nahen Osten und Russland in der Ukraine verbreitet. Aggression und Instabilität verschlingen die politischen, finanziellen und militärischen Ressourcen Amerikas. Der Konflikt wird sich in Europa ausbreiten, wenn Russland sich in der Ukraine durchsetzt. Blutvergiessen könnte die Menschen im Nahen Osten radikalisieren und sie gegen ihre Regierungen aufbringen. Kriege ziehen Amerika an, das leicht zur Zielscheibe für Vorwürfe der Kriegstreiberei und Heuchelei wird. Die USA haben also alle Hände voll zu tun – und brauchen keinen weiteren Konflikt.
Auch China kämpft mit innen- sowie aussenpolitischen Problemen. Zu den aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen Chinas gehören ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum, ein angeschlagener Privatsektor, eine steigende Verschuldung und eine schnell alternde Bevölkerung. Seit der Corona-Pandemie kriegt das Land seine Probleme nicht mehr in den Griff. Laut Grano muss sich China im Ausland nebst den USA auch um Taiwan kümmern.
Die Ruhe könnte bald vorbei sein
Grano schätzt: «Eine weitere Eskalation und der Ausbruch eines neuen militärischen Konflikts wollen beide Seiten vermeiden.» Und die USA hoffen auch darauf, dass China sie in gewissen geopolitischen Fragen unterstützen wird. «Der Konflikt zwischen Israel und Hamas hat dem angespannten Verhältnis der Supermächte eine neue Dynamik verliehen, und Washington hofft, dass Peking seinen Einfluss auf den Iran nutzen kann, um eine Eskalation zu einem grösseren Krieg im Nahen Osten zu verhindern.»
Ob es aber zu einem tatsächlichen «gesunden, stabilen und nachhaltigen Verhältnis», wie es der chinesische Aussenminister formulierte, kommen kann, bleibt fraglich, erklärt die Expertin: «Der Dialog würde dazu beitragen, Missverständnisse und Fehleinschätzungen abzubauen und die Beziehungen zwischen den USA und China zu stabilisieren.» Doch auf Worte müssen auch Taten folgen. China müsste laut Grano sein Vorgehen im Südchinesischen Meer entschärfen. «Wenn dies nicht der Fall ist, dann werden solche Versuche des Dialogs sinnlos sein.»