Ein Fluch ist er, dieser Nahe Osten. Wann immer man denkt, man könne sich allmählich neuen Weltproblemen zuwenden, muckt er wieder auf und bindet alle Energie. Ganz besonders gilt das für die USA, die allein im Krieg in Afghanistan 2,3 Billionen – also 2300 Milliarden – und im Irak 760 Milliarden Dollar verlocht haben. Mit mehr als nur durchzogenem Resultat.
Amerika, die grösste Militärmacht der Menschheitsgeschichte, möchte seine Dollars schon lange viel lieber im Indopazifik investieren und den Erzrivalen China in Schach halten, als sie im zerstrittenen «Middle East» in den heissen Sand zu setzen. Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat den USA erneut gezeigt: Damit wirds nix. Amerika hat eindrücklich reagiert. Und die Reaktion zeigt vor allem eines.
Schweiz gründet Taskforce, Amerika schickt Flugzeugträger
Europa hat seine Lektion aus dem Ukraine-Krieg noch immer nicht gelernt. Ohne die mächtigen Brüder aus Übersee wäre die Alte Welt einmal mehr rat- und tatlos. Die Idee, dass wir ohne den guten Willen aus Washington unsere heile Welt aufrechterhalten könnten, verpufft wie der Rauch der europäischen Friedenspfeifen.
Schauen wir uns die Reaktionen einmal an: Deutschland verurteilt die Hamas-Gewalt und stoppt die Zahlungen ans Uno-Palästinenserhilfswerk (genau wie Österreich). Frankreich setzt die Armee ein, um jüdische Einrichtungen und Kulturstätten im eigenen Land zu schützen. Grossbritannien ist schockiert über den Terror. Und die Schweiz betont, Israel habe ein Recht auf Selbstverteidigung. Ob man die Hamas nun als Terrororganisation erachtet oder nicht, darüber diskutiert man jetzt in einer «Taskforce Nahost».
Dem europäischen Schleuderkurs gegenüber steht die ultrazackige amerikanische Antwort: US-Präsident Joe Biden (80) lässt nicht einen, sondern gleich zwei seiner elf Flugzeugträger mitsamt ihren Begleitarmadas und Tausenden Soldaten und Sondereinheiten vor Israels Küste aufkreuzen.
Amerika schickte tonnenweise Abwehrraketen für das israelische Luftverteidigungssystem «Iron Dome» und wies seine Rüstungsindustrie an, Jerusalems Aufträge prioritär zu behandeln. Nicht zu vergessen sind die 3,8 Milliarden Dollar direkte Militärhilfe, die Amerika zuverlässig jedes Jahr an Israel überweist: immerhin ein Sechstel des gesamten Armee-Budgets des jüdischen Staates.
Israels «Schlecht-Wetter»-Ausrede
Eine eindrückliche Drohkulisse, aufgefahren binnen kürzester Zeit, mit einem einzigen Ziel: dem Iran, dem Hauptgeldgeber der Hamas und der libanesischen Hisbollah, glasklar aufzuzeigen, dass sie sich nach ihrem kurzen Aufstand jetzt sofort wieder hinsetzen sollen. Für alle Länder, Organisationen und Einheiten, die jetzt daran denken würden, Israel anzugreifen, habe er nur ein Wort, sagte Joe Biden Anfang der vergangenen Woche: «Don’t!», «Tut es nicht!». Deutlicher gehts nicht.
Welches Gewicht Amerikas Wort im Nahen Osten hat und welchen Eindruck seine Waffen bei den Mullahs in Teheran und den Terroristen in der politischen Führung der Hamas und der Hisbollah trotz deren grossspurig vorgetragenen anti-amerikanischen Tiraden haben, wird derzeit so offensichtlich wie selten zuvor. Die Hisbollah hält sich – bis auf ein paar tragischerweise tödliche Provokationen entlang der libanesisch-israelischen Grenze – bislang zurück.
Und auch Israel ist seinem Hauptgeldgeber hörig. Amerikas eindringliche Aufforderung, mit der Bodeninvasion in Gaza zuzuwarten und einen humanitären Korridor für die fliehenden Menschen im Nord-Gaza-Streifen einzurichten, ist Israel bislang nachgekommen. Das «schlechte Wetter», das Jerusalem für die Verschiebung der Invasion angegeben hatte: nicht viel mehr als pseudo-meteorologische Vertuschung.
Wir haben noch genau einen Monat Zeit
Amerika ist – auch wenn das Land auf Wunsch von Israel bislang nicht mit eigenen Truppen auf israelischem Boden präsent ist – nach wie vor der grosse Taktgeber im Nahen Osten. Europa muss dankbar sein, dass Amerika erneut aus seinem Traum vom Abschied in den Indopazifik gerissen worden ist.
Doch statt selbst weiter zu träumen, sollte die Alte Welt jetzt ihren geopolitischen Tiefschlaf beenden. Am 17. November läuft das Übergangsbudget aus, auf das sich US-Demokraten und -Republikaner vor kurzem mühsam geeinigt haben. Wie es danach weitergeht in den USA, ist komplett unklar. Gibt’s keinen innenpolitischen Durchbruch, läuft der amerikanische Staat und mit ihm seine gesamte Militärmacht auf Sand auf.
Spätestens dann braucht Europa ein paar eigene Antworten, wie man den Bedrohungen im Ost- und Südosten begegnen will. Viel Zeit zum Debattieren bleibt nicht – weder für die Machtzentren in Paris, Berlin und London noch für die «Task Force Nahost» in Bern.