In vier trockenen Sätzen, so verkündete die Regierung der Schweiz den wohl umstrittensten Waffendeal der letzten Jahre. «Der Bundesrat hat am 23. September 2022 ein Gesuch für die Ausfuhr von rund 6000 Schuss Munition nach Katar beurteilt und dessen Bewilligung beschlossen», schrieb die Regierung an jenem Tag in einer dürren Medienmitteilung. Es ging um Geschosse für den Kampfjet Eurofighter.
Kritikerinnen und Kritiker waren irritiert. Kampfjetmunition für die Armee eines Landes, das Menschenrechte mit Füssen tritt? Ein autoritäres Emirat, das islamistische Terroristen finanziert. Und all dies, während sich Bern nicht einmal dazu durchringen kann, der Ukraine mit Schutzwesten auszuhelfen – und anderen Ländern sogar verbietet, in der Schweiz produzierte Munition an die Ukraine weiterzugeben.
Wie ist das möglich? Interne Dokumente aus der Bundesverwaltung zeigen nun erstmals, was hinter den Kulissen ablief. Der Bewilligung ging ein monatelanges Gerangel voraus. Während Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement (WBF) auf die Lieferung drängte, wehrte sich Aussenminister Ignazio Cassis bis zuletzt. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sprach sich kategorisch gegen den Export aus.
Der Bund zögert
SonntagsBlick hat, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, Zugang zu Dokumenten zum Katar-Entscheid verlangt. Der Bund zögerte die Antwort lange hinaus. Statt der im Gesetz festgeschriebenen Frist von 20 Tagen dauerte es knapp vier Monate, bis der Redaktion Einsicht gewährt wurde.
Kern der Auseinandersetzung zwischen den Departementen ist ein sechsseitiges Positionspapier des EDA vom 22. Februar 2022. Darin legt die Abteilung Internationale Sicherheit des Aussendepartements im Detail dar, weshalb die Schweiz die Lieferung der Kampfjetmunition nach Katar unbedingt verbieten muss. Die EDA-Experten stützten sich auf drei Hauptgründe:
- Lage im Innern des Emirats. Die Menschenrechtssituation in Katar sei unbefriedigend, die Todesstrafe nach wie vor üblich. Dazu kommen der schlechte Umgang mit Arbeitsmigranten, massive Einschränkungen der Meinungsfreiheit sowie stark eingeschränkte Rechte für Frauen und LGBTQ-Personen.
- Regionale Stabilität. Die Golfregion sei sehr unsicher, Spannungen könnten «über Nacht eskalieren». Liefere die Schweiz offensives Kriegsmaterial, könnte dies zur Instabilität beitragen. Komme hinzu: Die Schweiz setze sich für Frieden in der Golfregion ein. Deshalb sei der Export nicht mit deren aussenpolitischer Strategie vereinbar.
- Neutralitätsprinzip. Die Lieferung von Kampfjetmunition sei nicht mit der Neutralitätspolitik der Schweiz vereinbar. Es sei nicht auszuschliessen, dass Katar (als früheres Mitglied einer Militärallianz; Red.) erneut Operationen im Jemen-Krieg unterstütze. Dazu das EDA: «Eine Ausfuhr von offensivem Kriegsmaterial an ein Land, das in den letzten Jahren direkt in regionale Konflikte verwickelt war und weiterhin bewaffnete Gruppierungen unterstützt, (...) könnte die Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutrale, humanitäre Akteurin aufs Spiel setzen.»
Parmelins Wirtschaftsdepartement blockte die Bedenken des Aussendepartements ab. Nur zwei Tage nach dem Positionsbezug des EDA stellte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ein Wiedererwägungsgesuch. «Das Seco kann der Begründung des EDA nicht folgen», schrieben Parmelins Leute. Das Aussendepartement nenne nur «hypothetische Risiken». Eine konkrete, negative Auswirkung auf die Stabilität in der Region sei «nicht nachvollziehbar».
Was das Seco in jenem Moment bereits wusste: Das Emirat Katar war just zu dieser Zeit mit Abstand zum wichtigsten Waffenabnehmer der Schweiz avanciert. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2022 lieferte die eidgenössische Rüstungsindustrie Kriegsmaterial im Wert von mehr als 210 Millionen Franken an die Scheichs – so viel wie an kein anderes Land auf der Welt.
Die Bestellung von Kampfjetmunition war jedoch heikler als vorangegangene Geschäfte. Zuvor handelte es sich jeweils vor allem um defensive Waffen, etwa Flugabwehrkanonen.
Das Seco sicherte sich in der Beurteilung des Gesuchs beim Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ab. Dieser kam in einer Analyse zum Schluss, es bestehe kein Grund zu der Annahme, die Munition komme im Jemen-Krieg zum Einsatz.
Kein «offensives Kriegsmaterial»
Darüber hinaus argumentierte das Wirtschaftsdepartement, es sei falsch, wenn das EDA den Kampfjet Eurofighter und die Munition für dessen Bordkanone als «offensives Kriegsmaterial» darstelle. Die Waffen würden defensiven Operationen genauso dienen.
Auch die Neutralitätsbedenken des EDA teilte SVP-Bundesrat Parmelin offenbar nicht. Ganz anders als bei der Ukraine, wo er sich in der Frage des Verbots einer Weitergabe von Schweizer Munition durch Deutschland ausdrücklich darauf beruft. Im Unterschied zu Katar befindet sich die Ukraine allerdings direkt in einem Krieg.
So oder so: Die EDA-Experten liessen sich nicht umstimmen. Am 9. März 2022 unterrichteten sie ihren Vorsteher Ignazio Cassis zum wiederholten Mal über die weiter bestehende Meinungsverschiedenheit. Sie empfahlen ihm, an der Ablehnung festzuhalten, was er tat. Aus diesem Grund musste der Gesamtbundesrat – bei Kriegsmaterialexporten ist dies unüblich – über die Lieferung entscheiden. Am 23. September 2022 gab die Regierung grünes Licht. Parmelin konnte offenbar eine Mehrheit seiner Kolleginnen und Kollegen vom Rüstungsdeal überzeugen.
Noch am selben Tag schrieb der Bund in seiner dürren Medienmitteilung: «Nach seinem [des Bundesrats] Dafürhalten gibt es keine zwingenden Gründe für ein Verbot dieser Ausfuhr.»
Waffen in Unrechtsstaat
Im Parlament sorgte die Bewilligung für Kopfschütteln. Und warf eine weitere Frage auf. Laut Kriegsmaterialverordnung darf die Schweiz keine Waffen an Länder liefern, die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzten. 2019 kam das EDA in einer internen Analyse allerdings zum Schluss, dass Katar genau das tut.
Verstiess der Bund mit der Lieferung der Kampfjetmunition also gegen das Gesetz? Das wollte SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf in einer Interpellation von der Regierung wissen. In seiner Antwort stellte sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass die EDA-Analyse aus dem Jahr 2019 «nicht abschliessend» gewesen sei. Die Lage in Katar sei zwar weiterhin problematisch, die Menschenrechtsverletzungen aber insgesamt nicht mehr als schwerwiegend und systematisch einzustufen.
Für Seiler Graf ist diese Antwort unbefriedigend. «Es ist recht abenteuerlich zu behaupten, dass in Katar Menschenrechte nicht mehr systematisch und schwerwiegend verletzt werden.» Für sie sei weiterhin klar: Der Export verstösst gegen das Kriegsmaterialgesetz.
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