Die Ukraine muss bei ihrer Offensive gegen die eingedrungenen russischen Streitkräfte zahlreiche stark befestigte Verteidigungslinien durchbrechen. Vor Journalisten hat US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (69) eben ausgeführt, wie die Vereinigten Staaten die Ukraine dabei unterstützen – mit bereitgestellter Ausrüstung und Ausbildung.
Kiews Infanterie, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und Ingenieure müssen unter russischem Beschuss eng koordiniert vorgehen, um die Gräben, Panzersperren und andere Verteidigungsanlagen zu durchbrechen – Anstrengungen, die ein hohes Mass an Geschicklichkeit abverlangen und keinen Raum für Fehler lassen.
Russland könne an langer Front nicht überall stark sein
Die USA und andere Länder hätten die Ukraine monatelang auf genau diese Aufgaben vorbereitet. Zehntausende von Truppen des Landes seien ausgebildet und mit dem Material versorgt worden, das sie für den Erfolg an der Front benötigen. Laut Austin erstrecken sich die russischen Verteidigungsanlagen über Hunderte von Kilometern, was der Ukraine potenzielle Schwachstellen bietet, die sie ausnutzen kann. «Wenn man sich an einer so langen Front verteidigt, kann man nicht überall stark sein», so Austin.
«Wir haben nicht nur hochwertige Plattformen wie die Bradley-Kampffahrzeuge, Schützenpanzer und Stryker sowie einige andere Dinge zur Verfügung gestellt. Wir haben sie auch in einer Reihe von Manövern geschult», so Austin Anfang Juni in Singapur. Eines dieser Dinge ist das Durchbrechen von komplexen, von den Russen errichteten Hindernissen.» Austin spricht von einem «Hindernisgürtel». Er sei «zuversichtlich, dass die Truppen auf mittlerer und unterer Ebene wissen, was zu tun ist, um diese Art von Hindernissen erfolgreich zu überwinden.»
Austin nennt dies «das Einmaleins der Kriegsführung». Er wisse nicht, wie gut die Aufklärung gelaufen sei. Die Aufgabe der ukrainischen Streitkräfte sei es, herauszufinden, wo der Gegner «nicht stark ist, wo es Chancen gibt, und diese Chancen zu erkennen und zu nutzen». Er sei überzeugt, dass man der Ukraine «die Möglichkeit dazu gegeben hat. Wir werden sehen.»
Schwachstellen finden
Es sei «sehr schwierig, gut vorbereitete Verteidigungsanlagen anzugreifen», zitiert die Nachrichtenagentur AFP dazu den pensionierten US-Oberst Mark Cancian vom Center for Strategic and International Studies (CSIS). Unzählige Elemente seien für einen erfolgreichen Angriff erforderlich. «Es erfordert ein hohes Mass an Geschick, die verschiedenen Waffen zusammenzubringen», so Cancian.
Zunächst werde ein stunden- bis tagelanger Artilleriebeschuss eingesetzt, um die russische Verteidigung zu stören. Dann sei ein Unterdrückungsfeuer erforderlich, um Moskaus Truppen an einer wirksamen Reaktion zu hindern. Pioniere würden dann Minenfelder räumen und Barrieren überwinden, damit andere Truppen vorrücken können, und die Infanterie suche zusammen mit gepanzerten Kräften nach Schwachstellen. «Das Ziel ist es», sagt Cancian, «die Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, damit die Panzereinheiten passieren und frei manövrieren können.»
Neben der Ausbildung sei auch die von Kiews Unterstützern gelieferte Ausrüstung «absolut entscheidend», so Cancian. «Gepanzerte Fahrzeuge werden die Feuerkraft liefern, um die russische Verteidigung zu durchdringen, und dann die Mobilität, um jeden Durchbruch zu nutzen.» Auch andere Ausrüstungen wie Minenräumgeräte und Sprengstoff würden benötigt.
Massive Verteidigungsanlagen der Russen
Seit Sonntag haben die ukrainischen Streitkräfte eine Reihe von Angriffen gestartet. Der US-Politologe Charles Kupchan (65) von der Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR) spricht von «formgebenden Operationen» seit Wochen – Bewegungen, die die Grundlage für eine gross angelegte Gegenoffensive bilden.
«Die Ukraine hat versucht, russische Depots und Nachschublinien in den besetzten Gebieten, einschliesslich der Krim, und in grenznahen Gebieten in Südrussland zu treffen», so Kupchan zu AFP. «Die Russen haben im Süden eine beeindruckende Reihe von Verteidigungsanlagen errichtet, darunter Panzerabwehrgräben, gefolgt von Betonbarrikaden, die als ‹Drachenzähne› bekannt sind, und schliesslich Schützengräben.»
Die Ukraine werde eine anhaltende und starke Offensive aufbieten müssen, um diese mehrschichtige «Verteidigung in der Tiefe» zu durchbrechen. Die Kiewer Streitkräfte hätten die nötige Ausrüstung und Ausbildung, aber Russland sei zahlenmässig überlegen.
«Blutige und schwierige Kämpfe ohne Sieger»
«Die Kämpfe werden wahrscheinlich blutig und schwierig sein und möglicherweise in einer Pattsituation enden», so der Aussenpolitikexperte. Auf dem Schlachtfeld werde sich wohl kein Sieger abzeichnen. Keine der beiden Seiten, prognostiziert Kupchan, könne die «Fähigkeiten aufbringen, die für einen entscheidenden Sieg auf dem Schlachtfeld erforderlich sind». (kes)