Blick traf Swetlana Tichanowskaja, die Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko entmachten wollte
«Wir wollen doch nicht gegen unsere Brüder kämpfen»

Swetlana Tichanowskaja ist wohl die mutigste Belarussin. Weil sie es 2020 bei den Wahlen wagte, gegen Diktator Alexander Lukaschenko anzutreten, wird sie nun bedroht. Blick traf sie in Genf unter strengem Polizeischutz und befragte sie zum Krieg in der Ukraine.
Publiziert: 16.03.2022 um 17:25 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2022 um 19:57 Uhr
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Swetlana Tichanowskaja (39) beim Interview-Termin mit Blick in Genf.
Foto: Nicolas Righetti/Lundi13.ch
Interview: Guido Felder

Gleich vier Bodyguards begleiten Swetlana Tichanowskaja (39), als Blick sie in einem Genfer Hotel zum Interview trifft. Die Belarussin lebt in Gefahr, seit sie 2020 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Machthaber und Putin-Freund Alexander Lukaschenko (67) angetreten ist. Nach den manipulierten Wahlen floh sie wegen Drohungen zu ihren Kindern nach Litauen, wo sie zurzeit lebt.

Am Rande eines Menschenrechtskongresses in Genf beantwortete sie Blick Fragen zum Krieg in ihrem Nachbarland und zu ihren Kindern, die ihren Vater seit zwei Jahren nicht mehr gesehen haben.

Blick: Frau Tichanowskaja, wie haben Sie vom Einmarsch der Russen in die Ukraine erfahren?
Swetlana
Tichanowskaja: Ich war auf offiziellem Besuch in Paris, als mich mein Assistent morgens um fünf Uhr anrief. Ich war völlig durcheinander. Es war für mich die Hölle.

Hätten Sie Putin diesen Krieg nicht zugetraut?
Ich betrachtete Putins Aufmarsch als eine Drohgebärde gegen den Westen. Dass er einmarschieren würde, habe ich nicht erwartet. Ich war davon ausgegangen, dass die Geschichte, die unsere Länder ja vor einigen Jahrzehnten erlebt haben, in unseren Köpfen immer noch präsent sei.

Nach Litauen geflohen

Swetlana Tichanowskaja (39) erlangte Berühmtheit, als sie 2020 zu den Präsidentschaftswahlen in Belarus antrat, die sie wegen Wahlmanipulation verlor. Sie hatte sich anstelle ihres Mannes Sergei Tichanowski (43) aufstellen lassen, der unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Wegen Drohungen liess sie ihre beiden Kinder (11 und 6) ausser Landes bringen, anschliessend floh sie selber nach Litauen. Sie hat mehrere Auszeichnungen erhalten. BBC zählte sie 2020 zu den wichtigsten 100 Frauen.

Swetlana Tichanowskaja (39) erlangte Berühmtheit, als sie 2020 zu den Präsidentschaftswahlen in Belarus antrat, die sie wegen Wahlmanipulation verlor. Sie hatte sich anstelle ihres Mannes Sergei Tichanowski (43) aufstellen lassen, der unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Wegen Drohungen liess sie ihre beiden Kinder (11 und 6) ausser Landes bringen, anschliessend floh sie selber nach Litauen. Sie hat mehrere Auszeichnungen erhalten. BBC zählte sie 2020 zu den wichtigsten 100 Frauen.

Wie haben Sie Ihren Kindern erklärt, was in Ihrem Nachbarland abläuft?
Mein elfjähriger Sohn begreift schon lange, dass wir im eigenen Land gegen einen Diktator kämpfen müssen, der seinen Vater inhaftiert hat. Den Krieg verfolgt er über TV und Youtube. Er hat Angst. Meine sechsjährige Tochter hingegen ist zu klein, um zu verstehen. Sie hat auch Mühe zu begreifen, warum sie ihren Vater seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat.

Was weiss sie denn über ihren Vater?
Sie weiss, dass er im Gefängnis sitzt. Aber ich zweifle daran, dass sie weiss, was ein Gefängnis ist. Sie redet oft zu den Fotos mit ihm, die an der Wand hängen, und weint.

Stehen Sie mit ihm in Kontakt?
Seit über einem Jahr ist er in Isolationshaft. Sein Anwalt besucht ihn wöchentlich. Ich habe keine Möglichkeit dazu.

Wie stark ist Belarus in den Krieg involviert?
Wir sprechen von zwei Dingen: den Truppen und dem belarussischen Volk. Das Volk, das am Staatsfernsehen lange nicht informiert worden war, ist ganz klar gegen den Krieg. Wir wollen doch nicht gegen unsere Brüder und Schwestern kämpfen. Die Regierung hingegen hat unseren Boden für die russischen Truppen hergegeben.

Gibt es Widerstand in Ihrem Land?
Viele junge Männer haben das Land verlassen, weil sie sich vor einer Mobilmachung fürchten. Sie wollen nicht gegen ein Brudervolk kämpfen und weder für Putin noch für Lukaschenko sterben. Auch die Mütter machen Druck auf die Regierung. Das alles trägt dazu bei, dass Lukaschenko zögert, eigene Soldaten in die Ukraine zu schicken.

Wie stark ist Lukaschenko von Putin abhängig?
Lukaschenko braucht Putin als Geldquelle und Stütze, um an der Macht bleiben zu können. Putin seinerseits braucht Lukaschenko zurzeit, um der Welt zu zeigen, dass er mit seinem Krieg nicht alleine ist. Wenn Putin geht, wird auch Lukaschenko gehen.

Nach Beginn der Invasion wird in vielen Ländern plötzlich wieder über Aufrüstung diskutiert. Ist das die richtige Reaktion auf den Krieg?
Die Frage ist: Was ist die Alternative? Solange es Diktatoren gibt, wird es Bedrohungen geben. Wir müssen Stärke zeigen.

Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz in diesem Krieg?
In diesem Krieg hat sogar die neutrale Schweiz verstanden, was die Realität ist. Generell ist es wichtig, dass sich die demokratischen Länder zusammenschliessen und gemeinsam gegen Putin vorgehen.

Die in Belarus inhaftierte Schweizerin Natallia Herrsche ist vor wenigen Tagen überraschenderweise frühzeitig freigelassen worden. Wissen Sie warum?
Ich vermute, dass es ein Deal war. Die Schweiz hat entschieden, die Botschaft in Minsk neu zu besetzen, was eine Art Anerkennung von Lukaschenko bedeutet.

Sind Sie selber noch politisch aktiv?
Ich treffe mich weltweit mit Regierungsvertretern und präsentiere ihnen das moderne Belarus. Verschiedene Staaten anerkennen mich als Präsidentin des demokratischen Belarus. Wir können nicht zulassen, dass uns die Welt vergisst.

Wie sehen Sie Belarus in 20 Jahren?
Als ein wohlhabendes, demokratisches Land, in dem die Leute mit Stolz leben und Verantwortung übernehmen. Für mich ist es nebensächlich, ob wir dann in der EU oder sonst in einer Vereinigung mitmachen werden.

Könnten Sie sich vorstellen, eines Tages erneut fürs Präsidentenamt zu kandidieren?
Ich habe keine Absicht. Am liebsten möchte ich in Frieden mit meinem Mann und den Kindern zusammenleben und Reisen unternehmen. Aber Dinge ändern sich schnell. Wenn es eine Notwendigkeit sein wird, werde ich für mein Volk da sein.


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