Auf einen Blick
- Die Fentanyl-Krise ist die gefährlichste Drogenepidemie in der amerikanischen Geschichte.
- 2023 starben in San Franciscos Strassen mindestens 810 Menschen an der Killer-Substanz.
- Experten sagen, die Stadt setze bewusst auf falsche Mittel im vermeintlichen Kampf gegen das tödliche Problem.
Seine Hand will mir Brian (31) nicht geben. «Will dich nicht mit irgendwas anstecken», flüstert er ins Sirenengeheul der Innenstadt von San Francisco. Unablässig putzt er sich die verrottenden Zehen mit benzingetränkten Lappen. «Ich will die kleinen Dinger nicht verlieren», sagt er weinerlich.
Seit drei Monaten lebt Brian im Tenderloin-Quartier in der kalifornischen Metropole, zusammen mit 8000 anderen Drogensüchtigen. Er ist Fentanyl-abhängig, süchtig nach der synthetischen Monsterdroge, die 50-mal so stark wie Heroin ist. Zwei Milligramm können tödlich wirken. Allein im Jahr 2023 starben hier mindestens 810 Menschen an einer Überdosis.
Die Strassen in unmittelbarer Nachbarschaft der glitzernden Hochhäuser von Downtown San Francisco sind voll mit Zelten und regungslos herumliegenden Menschen, viele mit der Hand im Schritt, die Augen weit aufgerissen. Ein Flashmob aus der Hölle, eine Stadt erstarrt im Drogenwahn. Wer noch steht, tut das unnatürlich weit vornübergebeugt. Es sieht aus wie in einem Zombie-Film.
Donald Trump (78) bezeichnet San Francisco als Schande der Nation und schimpft über die demokratischen Verantwortlichen in der Stadt. Kamala Harris (59) verspricht, als Präsidentin gegen die mexikanischen Drogenkartelle zu kämpfen und kritisiert Trump dafür, den Migrationsdeal gestoppt zu haben, der für mehr Drogen-Scanner an der Grenze gesorgt hätte. Fentanyl tötet nicht nur. Es entscheidet vielleicht auch die amerikanischen Wahlen.
Fentanyl kommt in allerlei Formen. Die schlimmste Kombination, genannt «Tranq», ist ein Mix aus Fentanyl und Pferde-Betäubungsmittel. Süchtigen fault das Fleisch von Armen und Beinen weg. Der Anblick: grauenhaft.
Im Tenderloin verschwimmen Grenzen. Ist die hier tot? Lebt der hier noch? Manchmal ist das schwierig zu sagen. Der Geruch in der Luft: säuerlicher Urin, wie am Morgen nach der Zürcher Streetparade. 2021 hat die Bürgermeisterin im Quartier den Notstand ausgerufen. Verändert hat sich seither nichts.
Russisches Roulette in den Tenderloin-Gassen
«So schlimm wie jetzt war es hier noch nie», sagt Erik (53) und hockt sich in den Schatten hinter einem WC-Häuschen mitten im Tenderloin. «Seit 1985 bin ich obdachlos. Aber noch nie habe ich so um mein Leben gefürchtet wie jetzt.» Die Gewalt, das Klauen, die wüsten Instinkte, die das Fentanyl in den Menschen wecke: «Wir sind wilde Tiere hier. Die Stadt ist am Arsch. Zum Kotzen.» 65 Mal habe er in den vergangenen 18 Monaten Halbtote wiederbelebt. Jessica (47), Eriks Frau, sitzt neben ihm am Boden und verzieht den zahnlosen Mund zur Grimasse. «Ich klettere über die hinweg. Wenn du denen das Leben rettest, dann kratzen sie dir danach nur das Gesicht auf. Lohnt sich nicht.»
Die Killerdroge wird in chinesischen Labors hergestellt und von mexikanischen Kartellen in die USA gebracht. Ein Kilo kostet rund 32'000 Dollar. Damit lassen sich problemlos rund 20 Millionen Dollar Profit erzielen. Ein rentables Geschäft auf Kosten von Menschenleben. Viele Fentanyl-Süchtige waren zuvor abhängig von Opioiden, die in den USA als Schmerzmedikamente massenhaft zur Anwendung kommen. Wenn die handelsüblichen Opioide nichts mehr nützen, ist es nur ein kleiner Schritt zum x-fach stärkeren Fentanyl.
Tom Wolf (54) weiss das aus eigener Erfahrung. Der Familienvater hatte einen guten Job bei der Stadt. 2018 brach er sich den Fuss, nahm Schmerzmedikamente, wurde abhängig, griff zu hartem Stoff, landete auf der Strasse. Ein typisches Fentanyl-Schicksal. «Bis zu zwölf Mal täglich spielte ich auf der Strasse russisches Roulette, wenn ich mir einen neuen Schuss setzte», sagt Wolf. Das Gefängnis hat ihn gerettet. Staatlich verordnete Entgiftung: «Viele Angehörige der Junkies hier wünschten sich, ihre Töchter und Söhne würden im Knast landen. Da ist die Überlebenschance deutlich höher als im Tenderloin.»
Sogar die Zahnpasta liegt hier in der Panzerglas-Vitrine
Adrett gekleidet steht Tom Wolf an jener Strassenecke, an der er monatelang zugedröhnt am Boden lag. Er gilt heute als führender Drogenexperte. «Die Stadt gibt jedes Jahr 700 Millionen aus, um den Horror zu stoppen. Doch das nützt nichts», sagt er. «Man übt maximale Toleranz gegenüber allem und jedem. San Francisco mit seiner liberalen Geschichte hat nie gelernt, auch mal hart durchzugreifen.»
Er verstehe, dass jeder über seinen eigenen Körper entscheiden dürfe. «Aber wenn die Leute vor deinen Augen fast verrecken und du sie nicht mal daran hindern darfst, sich den nächsten Schuss zu setzen, dann ist etwas gehörig schiefgelaufen», sagt Wolf. Hoffnung hat er wenig. «San Francisco steckt im Teufelskreis. Der Tod hat hier ein leichtes Spiel.»
Die Gesetzeslage macht Veränderungen schwierig. 2014 entkriminalisierte Kalifornien Straftaten wie Drogenhandel und Ladendiebstähle mit einem Diebesgut von bis zu 950 Dollar. «Die Junkies haben hier sackweise geklaute Ware aus den Shops geschleppt. Niemand konnte sie daran hindern», erzählt Wolf. In San Franciscos Läden sind heute deshalb sogar Zahnpasta-Tuben in abgeschlossenen Panzerglas-Vitrinen verstaut. Diesen Herbst entscheidet die Bevölkerung, ob die Polizei in Zukunft wieder gegen Ladendiebe und Drogendealer vorgehen darf.
Aber San Franciscos einst guter Ruf ist dahin. «Zu Recht», sagt JJ Smith (54), ein ehemaliger Dealer. Er sass fast zehn Jahre hinter Gittern wegen Drogendelikten. Vor zwei Jahren starb sein Bruder an einer Fentanyl-Überdosis. Deswegen kurvt JJ Smith jetzt mit seinem E-Trottinett und dem Notfall-Nasenspray Naloxon täglich durch die hügligen Strassen im Tenderloin. Naloxon kann einen Tod durch eine Überdosis abwenden. Smith will jenen helfen, die seine Hilfe annehmen.
18 Leichen an einem Tag
«Oft ist es aber zu spät. Heute Morgen habe ich wieder einen Toten gefunden», erzählt Smith und zeigt hoch zur Kreuzung der Post- und Leavenworth Street. Im vergangenen Oktober waren es einmal 18 Leichen an einem Tag. Gestorben auf hartem Beton, an harten Drogen, im Herzen der Stadt.
San Francisco habe die Krise von Beginn weg falsch eingestuft, sagt JJ Smith. Als Fentanyl Mitte der 2010er-Jahre zum Problem wurde, habe die Stadt all die Junkies in den Gassen primär als Obdachlose betrachtet. «Ihr Rezept dagegen: den Süchtigen gratis Wohnraum in heruntergekommenen Hotels und leerstehenden Wohnblöcken anzubieten.»
Das habe das Problem aber nur verschlimmert, schimpft Smith. Die Süchtigen setzten sich ihren Schuss jetzt einfach hinter verschlossenen Türen statt draussen auf der Strasse. «Assistierter Suizid» sei das, denn richtige Rehabilitierungsprogramme für die Abhängigen habe man nie lanciert.
San Francisco ist infiziert, die Gegenmittel sind die falschen, es geht nur weiter bergab. So sehen das Tom Wolf und JJ Smith. Ein neuer Präsident, eine neue Präsidentin könnte neuen Schwung in die festgefahrene Situation bringen.
Brian, den Fentanyl-Süchtigen mit den kaputten Zehen, kümmern die US-Wahlen wenig. Wählen wird er am 5. November nicht. Er richtet den Blick kurz weg von seinen Füssen und schaut mich an: «Ich weiss gar nicht, ob ich dann noch lebe.»