Fahrt vom Hamad International Airport ins Zentrum der katarischen Hauptstadt Doha. Lässt man den Blick dabei zum ersten Mal über die Skyline schweifen, könnte man die Stadt für eine Fata Morgana halten. Wo bis in die 1960er-Jahre kaum mehr als Lehmhäuser in der Wüstenlandschaft standen, schiessen heute Wolkenkratzer aus dem Boden, fahren Luxusboliden durch die Strassen, präsentiert sich die kilometerlange Strandpromenade Corniche, winken Fussballstars und der Emir von Katar von LED-bestückten Fassaden.
Das Zentrum steht für die bekannte Seite der Stadt: das moderne, vorwärts gewandte, repräsentative Doha.
Ab dem 20. November richtet Katar die Fussballweltmeisterschaft der Männer aus. Bei rund 30 Grad, in klimatisierten Stadien. Es ist die erste Fussball-WM in einem arabischen Land. Und die Erste, die im Winter stattfindet. Dafür betreibt das Land seit Jahren eine riesige PR-Offensive und hat sich herausgeputzt. Blick hat eine Woche vor Ort recherchiert und dabei auch hinter die Fassade geschaut. Denn bei allem Pomp und aller Werbung – Katar hat oft zwei Gesichter: fortschrittlich und konservativ, wohlhabend und bitterarm, weltoffen und hermetisch abgeschirmt.
In drei Wochen wird in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft angepfiffen. Erstmals findet das wichtigste Fussballturnier im Winter statt – und in einem arabischen Land. Einem Land, das zwei Gesichter hat, der Welt aber nur eines davon zeigen will: glitzernde Wolkenkratzer-Fassaden, Wohlstand, Fortschrittlichkeit. Wer hinter diese Fassaden blickt, sieht weniger Beeindruckendes: Hunderttausende Arbeitsmigranten, Menschenrechtsverletzungen, totale Überwachung. Blick-TV-Reporterin Ramona Schelbert und Blick-Reporter Tobias Ochsenbein berichten daher diese Woche über den Wüstenstaat, auf den bald die ganze Welt schaut.
In drei Wochen wird in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft angepfiffen. Erstmals findet das wichtigste Fussballturnier im Winter statt – und in einem arabischen Land. Einem Land, das zwei Gesichter hat, der Welt aber nur eines davon zeigen will: glitzernde Wolkenkratzer-Fassaden, Wohlstand, Fortschrittlichkeit. Wer hinter diese Fassaden blickt, sieht weniger Beeindruckendes: Hunderttausende Arbeitsmigranten, Menschenrechtsverletzungen, totale Überwachung. Blick-TV-Reporterin Ramona Schelbert und Blick-Reporter Tobias Ochsenbein berichten daher diese Woche über den Wüstenstaat, auf den bald die ganze Welt schaut.
Die verborgene Schattenseite
Etwa das Industriegebiet in Doha. Wer knapp 20 Kilometer südlich aus dem Stadtzentrum fährt, fällt aus dem glitzernden Leben der Hauptstadt in eine staubige Parallelwelt. Ein Ort, den man als Tourist nicht sehen dürfte. Es gibt hier keine Wolkenkratzer, keine Glasfassaden, keine Luxus-Shoppingmalls. Alle Gebäude sind ummauert, an den Einfahrten zu den Arbeitersiedlungen stehen Sicherheitsmitarbeiter. Zutritt für Aussenstehende verboten. Wer hier nicht arbeitet, muss draussen bleiben.
Die Industrial Area ist das vielleicht wichtigste Quartier des aufblühenden Golfstaats Katar, das Herz dieser Nation. Bloss: Es taucht nirgends auf in der PR-Offensive des Landes und soll – so will es die Regierung – auch keine Besucher anlocken. Es ist die verborgene Schattenseite der katarischen Megacity.
Von den Strassen aus sieht man hier nichts als schmucklose Wohnkasernen. Vor den Fenstern hängen Kleider. Street 39, Street 40 – die Strassen haben hier keine Namen mehr, bloss noch Nummern. Solche Orte findet man in keinem Reiseführer, man erfährt zufällig davon.
In der Industrial Area lebt ein Grossteil von Dohas Einwohnern. Hunderttausende Arbeiter, zum Teil auch Arbeiterinnen, aus mehrheitlich asiatischen und afrikanischen Ländern hausen zusammengepfercht in überfüllten Unterkünften. Weit weg von den reichen Vierteln der katarischen Hauptstadt. Dort, im Zentrum, wo reiche Katarer in pompösen Shoppingmalls Statussymbole kaufen, reinigen sie bloss Strassen, Yachten oder Toiletten aus Marmor. Bauen Türme aus Glas und Stahl – und Villen. Kurzum: Sie sorgen dafür, dass die Fassade Dohas ständig glänzt. Chancen auf einen vergleichbaren Wohlstand haben sie kaum.
Das heutige Doha entwickelte sich aus der Siedlung Al Bidda, die erstmals gegen Ende des 17. Jahrhunderts in historischen Dokumenten erwähnt wurde. Ein unbedeutender Küstenort am Rand der Wüste. Ein Nest, dessen Menschen von der Fischerei und vom Perlentauchen lebten. Bis sie hier in den 1930er-Jahren erst Öl, später auch Gas entdeckten. Der Aufschwung der Ölindustrie bescherte der Stadt einen raschen Bevölkerungsanstieg und eine beispiellose Expansion. Heute ist Doha eine der einflussreichsten Hauptstädte der arabischen Welt, eine Macht.
«Doha gleicht einem Bienenstock»
Einer, der von dieser rasanten Entwicklung Katars lebt, ist Ibrahim Mohamed Jaidah (61). Der Architekt hat der Stadt mit seinen Bauten seine Handschrift verpasst. Er hat unter anderen das al-Thumama-Stadion gebaut, eines von acht Fussballstadien, in denen ab dem 20. November an der WM um den Pokal gespielt wird. Auch er profitierte von den Hunderttausenden Arbeitern aus dem Industriequartier. Die Zustände, unter denen diese Menschen leiden, kritisiert er offen. «Ich mache mich darum stark dafür, dass die Bedingungen für diese Menschen hier im Land besser werden», sagt er.
Jaidah steht in seinem Büro im 22. Stock vor einem riesigen Fenster, durch das man einen atemberaubenden Blick auf die Katara Towers hat. Ein neu erbautes Sechssternehotel mit zwei gewölbten Türmen, die als architektonische Hommage an das nationale Wappen Katars mit den zwei gekreuzten Krummsäbeln erbaut wurden. Dort sollen während der WM die «VVIPs» absteigen, die «very, very important persons», sagt Jaidah. Es ist eines der neusten Prunkstücke der katarischen Megacity.
«Seit dem Ölboom, aber speziell seit der Vergabe der WM nach Katar, gleicht Doha einem Bienenstock. Was hier in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren gebaut wurde, ist massiv. Dieses Wachstum veränderte viel mehr als nur das Aussehen der Stadt: die Wirtschaft, das Bevölkerungswachstum, die Kultur. All das passierte sehr schnell», sagt Jaidah. Vielleicht zu schnell.
«Wir haben zu lange nur westliche Städte kopiert, haben kaum auf Nachhaltigkeit geachtet, und unsere Kultur hat sich nicht im Städtebau widergespiegelt», sagt der Architekt. Die Baugesetze seien heute viel strikter, das Bewusstsein für das eigene Erbe und die Nachhaltigkeit viel grösser.
Katar
Viel Kulisse
Spricht Jaidah vom Einfluss der Kultur in der katarischen Architektur, dann meint er damit auch das Nationalmuseum von Katar. Der spektakuläre Bau ist einer Sandrose nachempfunden, einem rosenförmigen Gebilde aus Sand und Salzkristallen, das sich auf dem heissen Wüstenboden bildet.
Der Bau des französischen Stararchitekten Jean Nouvel (77) hat über 400 Millionen US-Dollar gekostet. Im Inneren gibt es eine 40’000 Quadratmeter grosse Ausstellungsfläche, ein 1,5 Kilometer langer Parcours führt durch die Geschichte des Landes. Man kann dort auf Grossleinwänden Menschen älterer Generationen zuhören, die von einem früheren Leben als Beduinen erzählen, vom Fischen und Perlentauchen. Von einer einfachen Welt, die in Doha längst der Vergangenheit angehört.
Aber die Sandrose, die schön glänzenden Fassaden, die künstlichen Inseln und mehrspurigen Strassen lenken den Blick weg vom Industriequartier mit all seinen Arbeitern, die Katar zu dem gemacht haben, was es heute ist: ein Land der Superlative – im Guten, wie im Schlechten.