Vielleicht war alles ein von langer Hand geplanter Versuch der Selbstrettung von Jewgeni Prigoschin (62): ein Präventivschlag, um seit Langem drohenden Anklagen wegen Verrats zu entgehen. Zwischen Prigoschin und dem Kreml schwelte seit Monaten ein Konflikt. Prigoschin brüskierte die russische Armeeführung immer wieder mit öffentlicher Kritik und Häme – ein unerhörter Vorgang für Wladimir Putins (70) Russland, wo regierungskritische Stimmen systematisch mundtot gemacht werden. Trotzdem liess der Kreml-Chef den Söldner-Chef lange gewähren.
Das womöglich wagemutige Kalkül von Jewgeni Prigoschin scheint jetzt aufzugehen. Ohne Blutvergiessen auf seiner Seite handelte der Führer der Wagner-Privatarmee mit einem «Putschversuch» gegen den Kreml seine eigene Sicherheit aus. Der Hauptakteur im Hintergrund: Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko (68).
Ohne Zweifel sollte die Rebellion Putin zu stürzen versuchen. Am frühen Samstag erklärte die Wagner-Söldnertruppe auf Telegram unmissverständlich: «Bald werden wir einen neuen Präsidenten haben.» Prigoschin pokerte hoch mit dem – vielleicht nur vorgegebenen – Putschversuch: Ohne, dass ein Tropfen Söldnerblut floss, liess der Wagner-Oberboss seine Kolonnen rund 200 Kilometer vor Moskau stoppen. Wenige Minuten zuvor hatte der Pressedienst von Lukaschenko mitgeteilt, dass dieser – nach Absprache mit Putin – Prigoschin überzeugt habe, aufzugeben.
Putschpläne «waren grandios»
Lukaschenko, so die Minsker Erklärung zu Prigoschins Kehrtwende, habe den ganzen Tag mit dem Söldnerführer verhandelt. Aufgrund dieser Gespräche habe sich Prigoschin einverstanden erklärt, «dass die Anstiftung eines blutigen Massakers auf dem Territorium Russlands unzulässig» sei. Prigoschin seinerseits erwähnte Lukaschenko am Samstag kein einziges Mal ausdrücklich.
Womöglich trauerte er seinen Putschplänen nach. Wie der Söldner-Telegramkanal AP Wagner am frühen Sonntag meldete, sei die Aufgabe der Pläne «eine Schande»: «Jeder wurde informiert, was er zu tun hatte und wie er es tun sollte.» So sei das Kidnapping von «Spitzenbeamten und Führungskräften aus Moskau» geplant gewesen. Man wollte Gebäude der Ministerien besetzen. «Die Pläne waren grandios.» Doch der Wagner-Boss vollzog eine 180-Grad-Wende.
Prigoschin im Belarus-Exil
Prigoschin habe Lukaschenkos «Vorschlag akzeptiert», den Vormarsch auf Moskau zu stoppen und die Lage zu beruhigen, so die Pressemitteilung aus Minsk: «Im Moment gibt es eine völlig konstruktive und akzeptable Option zur Lösung der Situation auf dem Tisch, mit Sicherheitsgarantien für die Wagner-Kämpfer.»
Der Belarus-Despot, der einzige verbleibende Verbündete Putins in der westlichen Hemisphäre, sicherte Prigoschin freies Geleit zu. Prigoschin zieht ins belarussische Exil. Wie lange er dort still sitzen kann, ist eine andere Frage.
Lukaschenko und Wagner-Chef sind alte Vertraute
Putins Sprecher Dmitri Peskow (55) bestätigte den Deal. Prigoschin reise nach Weissrussland aus und bleibe von Strafverfolgung verschont. «Lukaschenko und Prigoschin kennen sich seit mehr als 20 Jahren», so Peskow laut der Nachrichtenagentur Tass.
Diese langjährige Freundschaft sowie Putins Einwilligung zu solchen Gesprächen hätten diesen «ziemlich schwierigen Tag mit tragischen Ereignissen» schnell entschärft. Lukaschenko habe am Samstag nicht nur mit Prigoschin, sondern auch mit Putin «mehrere Gespräche geführt», so Peskow. Als Garantien für den freien Abzug habe Prigoschin «das Wort des Präsidenten».
Falls es tatsächlich Sicherheitsgarantien für Prigoschin gibt, ist das eine bittere Pille für Putin. Letzterer versprach nämlich, die Rebellen hart zu bestrafen. Doch auch Prigoschin muss bittere Pillen schlucken. In Belarus wird er kaum je sicher vor Russlands gefürchteten Geheimdiensten sein – und in Russland lässt er ein riesiges Wagner-Imperium zurück.
Prigoschins Armee
Prigoschins von der Ostsee-Metropole St. Petersburg aus geführtes Wagner-Imperium erwies sich als mitentscheidend an der Ukraine-Front. Wagner-Söldner stehen in Afrika und im Nahen Osten im Einsatz. Wie Bilder aus Rostow am Don zeigen, wo die Prigoschin-Kämpfer am frühen Samstag das Militärkommando kaperten, verfügen die 25'000 Mann starken Söldnertruppen über modernste Ausrüstung mitsamt neuwertig ausschauenden Lastwagen und Panzerfahrzeugen.
Kreml-Sprecher Peskow versicherte, dass auch die Wagner-Kämpfer angesichts ihrer Verdienste an der Front in der Ukraine nicht strafrechtlich verfolgt werden sollen. Vielmehr werde einem Teil der Söldner ein Angebot unterbreitet, sich vertraglich zum Dienst in den russischen Streitkräften zu verpflichten.
US-Geheimdienste gehen davon aus, dass Prigoschin für die Aktion am Samstag bereits seit einiger Zeit Vorbereitungen gegen den Kreml getroffen hatte. Womöglich waren seine ständigen Munitionsforderungen exzessiv. Der Chef der Söldnertruppe soll Waffen und Munition in der Nähe der Grenze zu Russland angehäuft haben, berichtete CNN am Samstag unter Berufung auf nicht namentlich genannte Geheimdienstkreise.