Sechs Wochen lang hielt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (60) die EU – und die Ukraine – hin. Im Dezember legte er sein Veto gegen ein Ukraine-Hilfspaket in der Höhe von 50 Milliarden Euro ein. Und obwohl die EU ihm mit schwerwiegenden Konsequenzen drohte, liess er sich nicht beirren. Bis Donnerstag. Da knickte er plötzlich ein. Das kennt man so von Orban nicht. Der grösste Querulant der EU gibt selten auf – normalerweise kämpft er, bis er kriegt, was er will.
Orban kommt immer mit blauem Auge davon
Seit er 2010 erneut zum Ministerpräsidenten Ungarns gewählt wurde, stellt sich Orban immer wieder gegen seine Bündnis-Kollegen. Seine EU-feindlichen Kampagnen und seine Rhetorik zeigen, dass Orban die EU eher als eine Arena für politische Kämpfe zum eigenen Nutzen denn als eine Plattform für konstruktive Zusammenarbeit betrachtet. Denn er weiss: Drohungen der anderen EU-Staaten gegenüber seiner Regierung sind meist nur heisse Luft.
Das Europäische Zentrum für Recht und Gerechtigkeit (ECLJ) zählt von 2010 bis 2020 insgesamt 34 Streitfälle zwischen Ungarn und der EU. Bei keinem dieser Vorfälle gab es ernsthafte Konsequenzen für Ungarn. Eine kleine Auswahl.
2010 führte Orban direkt nach Amtsantritt eine neue Verfassung ein – und löste damit direkt den ersten Streit mit der EU aus. Denn mit der ersten Version dieser Verfassung hebelte Orban quasi den Rechtsstaat aus. Doch trotz der – berechtigten – Kritik des EU-Parlaments und der Venedig-Kommission, die die EU-Staaten bei verfassungsrechtlichen Fragen unterstützt, leitete die EU-Kommission kein Verfahren gegen Ungarn ein. Die Verfassung wurde mit wenigen Anpassungen eingeführt – Orbans erster Streich.
Einen weiteren signifikanten Streit brach Orban im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom Zaun. Das ungarische Parlament verabschiedete im März 2020 ein Massnahmenpaket, das unter anderem Haftstrafen für die Verbreitung von Fehlinformationen vorsieht und den Ausnahmezustand, der es Orban erlaubt, per Dekret zu regieren – ohne zeitliche Begrenzung. Genau nach dem Geschmack des nationalistischen Ministerpräsidenten. Auch hier forderte das EU-Parlament Konsequenzen, die EU-Kommission weigerte sich abermals, ein Verfahren einzuleiten. Man liess Orban gewähren.
Ukraine-Krieg wird für Ungarn zum Dorn im Auge
Und auch seit 2022 stellt sich Orban immer wieder gegen die EU – insbesondere im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Der nationalistische Ministerpräsident gilt weithin als engster Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin (71) in der EU. Von seinen Kritikern wird er beschuldigt, die Interessen Moskaus gegenüber denen seiner EU- und Nato-Verbündeten zu vertreten. Bei diesen Themen lassen ihn seine EU-Kollegen noch immer gewähren.
Im Mai 2022 schlug die EU-Kommission das sechste Sanktionspaket gegen Russland vor, das unter anderem ein Verbot von russischem Öl bis zum Jahresende vorsieht. Doch Orban hat die Einigung 26 Tage lang verzögert. Die EU konnte das Sanktionspaket erst verabschieden, nachdem sie den Forderungen Budapests nachgegeben und dem Land (und zwei weiteren) eine Ausnahme vom Ölembargo gewährt hatte.
Ein weiteres Beispiel: Orbans Ausstand bei der Abstimmung des EU-Gipfels zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Ukraine im Dezember. Er wehrte sich als Einziger dagegen – und verliess kurzerhand den Saal, um den andern Staats- und Regierungschefs das erforderliche einstimmige Votum zu ermöglichen und sein Gesicht nicht zu verlieren.
Es zeigt: Auch wenn Ungarn mit rund zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nur einen kleinen Teil der EU-Bevölkerung von 448 Millionen ausmacht, kann Ungarn per Veto Prozesse in Brüssel zum Erliegen bringen. Denn etwas beherrscht Orban bestens: Er droht, trickst und erpresst, um an sein Ziel zu gelangen.
Orban verkalkuliert sich – und gibt auf
Beim Hilfspaket für die Ukraine hat sich Orban aber gehörig verkalkuliert. Während Wochen machte er keinerlei Anstalten, sein Veto zurückzuziehen. Zur Not wolle er den – eigens seinetwegen einberufenen – EU-Gipfel vom Donnerstag im Eklat enden lassen. Das liess er die Medien noch gewohnt selbstbewusst am Vorabend wissen.
Doch dann stand es 26:1 gegen ihn. Sogar für Orban war das Risiko zu hoch. Denn die europäischen Staats- und Regierungschefs drohten ihm mit dem endgültigen Zudrehen des Geldhahns, einem Ausschluss aus der Abstimmung – oder gar einem Entzug seines Vetorechts, von dem er doch so gerne Gebrauch macht. Kurz: Man wollte den Erpresser erpressen.
Orban knickte tatsächlich ein – und erreichte damit genau das Gegenteil von seinem eigenen Ziel: Statt die EU in gewohnter Spaltpilz-Manier zu zerrütten, schuf Orban mit seinem Knallfrosch-Gehabe ein geeintes Bündnis.
Laut Charles Michel (48), Ratspräsident der EU, war die Entscheidung am Donnerstag einstimmig. «Alle 27 Staats- und Regierungschefs einigten sich auf ein zusätzliches Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro im Rahmen des EU-Haushalts», hiess es auf X. Alle – auch Viktor Orban.