Mit einem pompösen und gigantischen Festakt zelebrierte Kreml-Chef Wladimir Putin (69) letzte Woche in Moskau die Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja.
Weniger zu feiern haben seine Truppen auf dem Schlachtfeld: Obwohl der Kreml die vier Regionen offiziell als russisches Staatsgebiet erklärte, erleiden Putins Truppen in den annektierten Gebieten eine Niederlage nach der anderen. Nachdem die ukrainischen Truppen vor wenigen Tagen bereits das strategisch wichtige Lyman in der Oblast Donezk im Osten des Landes erobert haben, rücken sie nun auch in Cherson immer weiter vor.
Wie sieht es also in den vier Gebieten tatsächlich aus? Hat Putin die Regionen annektiert und nun gar nicht unter Kontrolle? Laut Marcel Berni (34), dem Experten an der Militärakademie der ETH Zürich, läuft Putins Teilmobilmachung derzeit aus dem Ruder: «Statt mit der Annexion Tatsachen zu schaffen, gaben ihm die Ukrainer auf dem Schlachtfeld die beste militärische Antwort: Nämlich, dass sie von Tag zu Tag besser vorwärtskommen.»
«Russen haben Kulminationspunkt überschritten»
Die gesamte Situation strotze nur so vor Ironie: «Während Putin gerade im Kreml die Annexion unterzeichnet hat, feierte die ukrainische Armee grosse Erfolge.» Dies lasse den Kreml-Machthaber je länger, je mehr alt aussehen und zeige, wie sehr sich Putin im Kreml bereits von den militärischen Realitäten verabschiedet habe.
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Die vier Gebiete gehören zwar auf dem Papier zu Russland, an der Front seien jedoch die Ukrainer auf dem Vormarsch. «Dadurch entsteht eine enorme Dynamik, die den Ukrainern in die Hände spielt und gleichzeitig die russischen Streitkräfte schwächt», erklärt Berni.
Die Moral der russischen Soldaten ist dem Strategie-Experten zufolge inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. «Den Russen wird je länger je mehr klar, dass es sich um einen Aggressionskrieg handelt und Putin seine Kriegsziele nicht erreicht.» Zudem hätte die russische Armee ihren Kulminationspunkt schon länger überschritten. «Daran werden auch ein paar Reservisten, die man im Rahmen einer Hauruck-Aktion mobilisiert hat, mittelfristig nur wenig ändern können.»
Ukrainer werden sich nicht zufriedengeben
Da die Ukraine in ihrem Angriffsschwung regelrecht beflügelt wurde, seien in Kürze weitere Geländegewinne seitens der Ukraine zu erwarten. «Selenskis Armee wird sich mit der Eroberung von Lyman nicht zufriedengeben. Sie werden an den Grenzen zwischen Charkiw, Luhansk und Donezk weiter vorrücken und weitere Städte angreifen.»
Dort seien die Russen nun nach der neusten Eroberung der Ukrainer noch verwundbarer: «Mit Lyman halten die ukrainischen Streitkräfte einen wichtigen Eisenbahnknotenpunkt unter Kontrolle. Dies bringt ihnen beim Transport und bei der Verschiebung von Munition, Material und Personal enorme Vorteile.» Berni erwartet, dass sich die Ukrainer als nächstes Ziel die Stadt Kreminna in Luhansk vorknüpfen werde.
«Die Stadt liegt an einer wichtigen Strasse, die vom Norden in den Osten führt.» Deshalb könne es gut sein, dass die ukrainische Armee die Strasse, die nach Kreminna führt, als nächstes operatives Ziel unter Kontrolle bringen will.