Kurz vor dem Stichtag schiesst Anders Tegnell (64) quer. «Wenn wir einen wirksamen Impfstoff erhalten, werden wir in einer besseren Position sein, selbst wenn die Infektion bestehen bleibt. Es ist jedoch immer noch sehr ungewiss, wie die derzeit laufenden Impfstoffe in der Realität funktionieren werden», schrieb der Staatsepidemiologe an Heiligabend in der Wirtschaftszeitung «Dagens Industri» – nur drei Tage vor dem Impfstart in Schweden.
Was Tegnell damit genau meint, bleibt unklar. Was heisst «wenn»? Und inwiefern ist die Funktion «ungewiss»?
Wie die meisten europäischen Länder hat Schweden am Sonntag mit der Impfaktion begonnen. Nachdem das Land am Wochenende 9750 Impf-Dosen (ausreichend für 4900 Menschen) erhalten hat, bekam die 91-jährige Pflegeheimbewohnerin Gun-Britt Johnsson aus Mjölby als erste Schwedin die Corona-Impfung von Biontech/Pfizer. Ab Januar erhält Schweden wöchentlich 80'000 Dosen. Innerhalb der ersten sechs Monate soll die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung immunisiert werden.
Tegnell: «Verstehe niedrige Akzeptanz»
In den sozialen Netzwerken sorgt Tegnells skeptische Aussage entsprechend für Aufsehen. «Warum stellt Tegnell die Wirksamkeit einer zugelassenen Impfung in Frage?», schreibt die Evolutionsbiologin Julie Blommaert von der Universität Uppsala auf Twitter. «Was denkt sich die Regierung bei einem solchen Text? (...) Wie kann man an so einem Staatsepidemiologen festhalten? Das ist so unglaublich gefährlich», kommentiert die Journalistin Lydia Walsten von der Tageszeitung «Svenska Dagbladet».
Es ist nicht das erste Mal, dass Anders Tegnell mit impfskeptischen Aussagen auffällt. «Ich verstehe, dass die Akzeptanz aktuell ziemlich niedrig ist», sagte er Anfang Dezember in einem Interview. «Es ist immer noch eine sehr theoretische Frage, da wir sehr wenig über die Impfstoffe wissen, die in der Pipeline sind, und die allgemeine Bevölkerung weiss noch weniger.» Im gleichen Interview sagte er allerdings auch: Er hoffe, dass die Corona-Impfung mit der Zeit zunehmend akzeptiert werde.
In seiner Kolumne in «Dagens Industri» geht Staatsepidemiologe Anders Tegnell nicht nur in Sachen Impfstoff auf die Unsicherheiten in der Corona-Krise ein. In der Pandemie sei keine Massnahme oder Entscheidung mit «absoluter Sicherheit» getroffen worden. Wenig hoffnungsfroh schreibt Tegnell: «Die meisten Vorhersagen haben sich als falsch herausgestellt, und das Coronavirus überrascht uns weiterhin. Deshalb ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, vorherzusagen, wie es sich im Jahr 2021 entwickeln wird.»
Er hoffe aber, dass man aus der Pandemie lernen und nachhaltigere Systeme für die öffentliche Gesundheit entwickeln werde. Er selbst hoffe, dass er im nächsten Jahr in der Lage sein werde, das Vertrauen der Bevölkerung zu erfüllen.
Auch Schweden hat mittlerweile Lockdowns
Die Kritik an Tegnells Sonderweg hat in den vergangenen Wochen stark zugenommen. Mitte Dezember fand selbst Schwedens König Carl XVI. Gustaf (74) klare Worte: «Ich denke, wir haben versagt. Wir haben eine grosse Anzahl von Toten, und das ist schrecklich. Etwas, das uns alle betrifft», sagte der Monarch in seinem Jahresrückblick. Der renommierte Professor und Intensivmediziner Jan van der Linden verglich in der Tageszeitung «Dagens Nyheter» Tegnell mit US-Präsident Donald Trump (74). Kernaussage: «Beide geben niemals Fehler oder Irrtümer zu.»
Anders Tegnell hatte sich im Frühjahr gegen einen Lockdown in Schweden ausgesprochen und darauf gehofft, dass Schweden die Herdenimmunität so möglicherweise auch ohne Impfung erreiche. Seit Schweden in der zweiten Welle erneut heftig von der Pandemie betroffen wurde, greift die Regierung durch. Unter anderem gibt es lokale Lockdowns und eine Begrenzung auf acht Personen bei Veranstaltungen. Eine Maskenpflicht existiert bis heute nicht – allerdings greifen viele Schweden freiwillig zum Mund-Nasen-Schutz.
Schweden ist bis heute eines der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder. Auf 100'000 Einwohner kommen nach Angaben von Johns Hopkins rund 81 Corona-Tote. In der Schweiz – seit der zweiten Welle ebenfalls schwer betroffen – sind es mittlerweile sogar 85, in Deutschland hingegen nur 37.