Analyse zu Selenskis historischer WEF-Rede
Der Westen lässt den Optimisten verzweifeln

Der ukrainische Präsident hat sich in einer Rede an die Weltöffentlichkeit gewandt. Seine Lage ist zusehends verzweifelt, seine Angriffe auf Putin so deutlich wie nie. Den Humor aber liess sich der Ex-Komiker nicht nehmen.
Publiziert: 16.01.2024 um 17:50 Uhr
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Aktualisiert: 17.01.2024 um 10:09 Uhr
Wolodimir Selenski hat am WEF eine historische Rede gehalten.
Foto: AFP
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Eine Bühne für grosse Reden: Das ist das WEF seit über 50 Jahren. Und doch ragt die Rede, die Wolodimir Selenski (45) am Dienstagnachmittag in Davos gehalten hat, heraus.

Selenski, der gewiefte Rhetoriker und unermüdliche Kämpfer für sein gebeuteltes Land, musste am WEF mit der ganz grossen Kelle anrichten, um der versammelten Schar von Wirtschaftsführern und Machthaberinnen die Kriegsmüdigkeit aus den Köpfen zu hämmern. Und wie er das tat! Drei Kernaussagen stechen aus dem historischen Auftritt heraus. Doch am meisten Aufsehen erregte ein Vorfall am Rande der Rede.

1

«Putin ist ein Raubtier, das sich nicht mit Gefrierprodukten zufriedengibt»

Er werde immer wieder gefragt, ob jetzt nicht die Zeit für Verhandlungen komme, sagte Selenski, der die rund 20-minütige Rede vor dem fast vollen Auditorium auf Englisch hielt. Dazu sei jetzt nicht der Zeitpunkt, mahnte der ukrainische Präsident. «Verhandlungen jetzt führen zu einem eingefrorenen Konflikt. Und Putin ist ein Raubtier, das sich nicht mit Gefrierprodukten zufriedengibt.»

Russland als System funktioniere nur so lange, wie es Krieg führe. Putin habe es verfehlt, seinem «Sklavenvolk» wirtschaftliche Siege zu verschaffen. Also setze er voll auf militärische Erfolgsmeldungen. Wer glaube, dass er sich nach Verhandlungen brav zurückhalten werde, sei naiv.

Damit erteilt er jenen Kreisen eine Absage, die hinter den Kulissen seit längerem versuchen, die ukrainische Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen. «Nur ein stabiler, sicherer Frieden basierend auf unserem Friedensplan kann das garantieren», sagte Selenski.

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«Wer denkt, in diesem Krieg gehe es um die Ukraine, liegt fundamental falsch»

Selenski betonte erneut, dass es Russland in diesem Krieg nicht um die Ukraine gehe, sondern um einen grösseren Eroberungszug, der an keiner Grenze stoppen werde. Die europäische Gemeinschaft müsse zusammenstehen und alles unternehmen, um die Gefahr einzudämmen. Ansonsten drohe ihr gröberes Ungemach.

«Stärkt unsere Wirtschaft, dann stärken wir eure Sicherheit», sagte Selenski, an die europäische Führungsriege gerichtet. Kein Land in Europa verfüge über eine so schlagkräftige Armee und ein so mutiges Kämpfervolk wie die Ukraine. Man erledige die blutige Arbeit, aber dazu brauche man dringend weitere Unterstützung, mahnte er.

3

«Sudan, Mali, Syrien: Überall hat Putin seine Finger im Spiel»

Auffällig war, dass der ukrainische Präsident gleich ganz zu Beginn seiner Rede eine ganze Reihe von Ländern im globalen Süden erwähnte, die in den vergangenen Jahren unter Putins Aggression gelitten haben. Die Namensnennungen sind eine klare Aufforderung an die bislang neutralen Länder, sich gegen Russland zu richten und zur Gemeinschaft jener Staaten überzulaufen, die sich entschieden gegen Putin stellen.

Den Aufruf an den globalen Süden kann man als Zeichen der Verzweiflung lesen. Selenski merkt, dass ihm aus dem reichen Norden und dem mächtigen amerikanischen Westen immer weniger Verständnis – und immer weniger Waffen – zufliegen. Also sucht er neue Verbündete, um seinen Kampf zu gewinnen.

Selenski, der einstmals erfolgreiche TV-Komiker, beendete seinen Auftritt im WEF-Saal mit einer kurzen Fragerunde, für die er sich den Übersetzungskopfhörer aufsetzte. Er sprach weiter auf Englisch – und kriegte die ukrainische Übersetzung aufs Ohr gespielt. Selenski pausierte kurz, lachte und sagte: «Jetzt übersetzen sie mir meine Antworten auf Ukrainisch. Schön! Ich finde die Stimme des Übersetzers sogar noch schöner als meine.»

Ein kleiner Witz am Rande, und doch ein grosser Moment. Er zeigt: Selenski lässt sich nicht brechen. Er hat den Humor nicht ganz verloren – nicht einmal nach den zwei brutalsten Jahren, die sein gebeuteltes Land hinter sich hat.

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