Selenskis Besuch kommt zu einem schlechten Zeitpunkt
Der unliebsame Gast aus Kiew

Der Bundesrat wird den ukrainischen Präsidenten mit leeren Händen empfangen müssen: Milliarden für Kiew kämen in der Bevölkerung schlecht an, wenn man ihr gleichzeitig sagt, dass für eine 13. AHV-Rente das Geld nicht reicht.
Publiziert: 14.01.2024 um 00:06 Uhr
|
Aktualisiert: 15.01.2024 um 09:07 Uhr
1/5
Sein Land braucht Geld und Waffen: Wolodimir Selenski.
Foto: keystone-sda.ch
Bildschirmfoto 2024-04-02 um 08.40.24.png
Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Sie agieren in unterschiedlichen Welten. Einst tauschten sie sich via Grossleinwand auf dem Bundesplatz aus, dann begegneten sie einander in Kiew und wurden für einen kurzen Moment Zweckverbündete: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45), Staatspräsident einer Nation, die seit bald zwei Jahren täglich von Russland mit Raketen beschossen wird, und Ignazio Cassis (62), Aussenminister der neutralen Schweiz, die um ihre Haltung zu diesem Krieg ringt.

Im Dezember zitterte Cassis um seine Wiederwahl als Bundesrat, so jedenfalls wurde die Wirklichkeit von Freund und Feind gezeichnet. Also musste er einen politischen Pflock einschlagen – eine Woche vor der Wahl, am 7. Dezember, berichteten die Tamedia-Zeitungen über ein pompöses Projekt des EDA-Vorstehers: «6 Milliarden Franken – ein Megapaket für den Ukraine-Aufbau.»

Die Schlagzeile wurde auch in Kiew wahrgenommen. Drei Tage später verkündete Selenski auf einer Reise via X, dass er demnächst für Friedensgespräche in die Schweiz kommen werde. Für den angeschlagenen FDP-Magistraten war dies die Bestätigung eines wertvollen Coups: Unter seiner Verantwortung standen die Schweiz und ihre Politik der Guten Dienste auf dem internationalen Parkett wieder in der ersten Reihe – nur drei Tage vor dem Tag der Wahl! Bekanntlich endete sie für Cassis mit einem Happy End, trotz Störmanövern von links wurde der Tessiner im Amt bestätigt.

Das Timing könnte nicht schlechter sein

Für Selenski hingegen lief es nicht ganz so gut. Seit Ausbruch des Gazakriegs hat sich die Welt von seiner Tragödie abgewendet, von den versprochenen sechs Milliarden Aufbauhilfe seines «Freundes» Ignazio Cassis ist noch kein Franken geflossen – denn der biss mit seinem Vorhaben bei der Landesregierung auf Granit: Der Bundesrat vertagte die Sache. Die SP-Vertreter äusserten die Sorge, das reguläre Budget für Internationale Zusammenarbeit (IZA) könnte darunter leiden. Und die Bürgerlichen – nach Blick-Informationen allen voran Cassis’ Parteikollegin, Finanzministerin Karin Keller-Sutter (60) – sollen einer anderen Angst Luft gemacht haben: Wie könne man ein Hilfspaket für die Ukraine ankündigen und der Bevölkerung gleichzeitig mitteilen, der Staat müsse sparen?

Wie ein Damoklesschwert hängt zudem die Initiative zur 13. AHV-Rente über den Häuptern bürgerlicher Haushaltspolitiker, zumindest schneidet das Ansinnen der Gewerkschaften in Umfragen gut ab – für Keller-Sutter wäre das Ja an der Urne ein Fiasko. Sie hat bereits mit Steuererhöhungen gedroht. Kurzum: Selenskis Besuch kommt zur Unzeit, das Timing könnte nicht schlechter sein, Cassis wird seinen berühmten Besucher mit leeren Händen empfangen müssen.

Die Davoser Ukraine-Konferenz zum Thema von Selenskis «Friedensformel» und der Schweizer Support bei der Minenräumung sind für den Gast aus dem Osten nur Trostpflaster – ein Präsident im Krieg tourt nicht für diplomatische Bekenntnisse um die Welt. Er braucht Geld und Rüstungsgüter.

Demonstrative Nettigkeiten beim Weltwirtschaftsforum

Ignazio Cassis wiederum hat mit seinem Vorpreschen in Bundesbern allseits Nervosität ausgelöst. Die Botschaft zur Internationalen Zusammenarbeit für den Zeitraum von 2025 bis 2028 jedenfalls liegt vor, die Konsultation ist beendet – und die Parteien streiten um den Stellenwert der Ukraine-Hilfe. Hinter den Kulissen lobbyieren die NGOs bereits eifrig gegen die Idee, vom regulären Geldtopf – zwölf Milliarden über vier Jahre – allzu viel für Kiew abzuzwacken.

Bleibt die Hoffnung, dass aus dem Gesprächsmarathon des Ukrainers handfeste, messbare Resultate herausspringen.

Beobachter äussern sich dazu allerdings skeptisch. Denn solange Russland nicht mit am Verhandlungstisch sitzt, bleibt ein Frieden Utopie und das tägliche Morden geht weiter.

Immerhin hat die Woche des Weltwirtschaftsforums mit demonstrativen Nettigkeiten begonnen. Gestern vermeldeten die Agenturen: «Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat der neuen Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd zur Präsidentschaft gratuliert und ihr für die Schweizer Unterstützung der Ukraine gedankt.»

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?

Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?