«Russland glaubt, dass die Welt müde werden wird», eröffnet US-Präsident Joe Biden (80) am Dienstag die fünfte Sitzung der Uno-Generalversammlung in New York. Wird sie aber nicht, versichert er der Runde und seinem Ehrengast, dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45).
Laut Berichten des deutschen Magazins «Spiegel» ist aber genau das zu spüren, an diesem sonnigen Herbsttag in New York: Müdigkeit. Immer wieder höre man, dass die Ukraine bitte nicht «den gesamten Sauerstoff verbrauchen» oder «zu viel Raum einnehmen» soll. Man habe auch so genug Probleme.
Selenski hält perfekte Rede – aber niemand will sie hören
Als Selenski dann am Dienstag ans Rednerpult tritt, bestätigt sich dieser schleichende Verdacht. Eine bessere Rede hätte der ukrainische Präsident nicht halten können: Die gute Weltgemeinschaft gegen einen Pariastaat, der die Rechts- und Staatenordnung auf dem Globus gefährdet.
Das war die psychologisch nahezu perfekte Geschichte, die Selenski in New York erzählte. Doch der riesige Saal war zu einem Drittel leer, es laufen andere Veranstaltungen. «Dem Bösen ist nicht zu trauen», beendet er seine flammende Ansprache. Höflicher Applaus aus der Runde, dann ist auch schon der Nächste dran, der Präsident von Guatemala.
Ein krasser Kontrast zum vergangenen Jahr. Damals trat Selenski virtuell auf, mittels überdimensionaler, in den Saal projizierter Videoaufzeichnung. Er wurde als Held bejubelt, vor vollem Haus. Es war ein Ereignis, der Krieg war sieben Monate alt, das Entsetzen noch frisch. Davon ist heute nichts mehr zu spüren, Selenskis Zauber hat sich verflüchtigt.
Wie geht man gegen Kriegsmüdigkeit vor?
Selenski weiss das, deshalb ist er in New York. «Er will skeptische Länder überzeugen», sagt einer seiner Berater zu «Spiegel». Und davon gibt es offenbar immer mehr. Die stockende Gegenoffensive, die ewigen Forderungen nach mehr Waffen, der Eindruck, die Ukraine sei nicht dankbar genug für die erhaltene Hilfe. Gründe, kriegsmüde zu sein, gibt es viele.
Natürlich stehen die Uno-Mitglieder noch immer mehrheitlich hinter der Ukraine. Aber: Es gibt «andere Themen», heisst es in westlichen Diplomatenkreisen. Andere Themen als die Ukraine. Themen, die die Generalversammlungen der Vereinten Nationen seit Jahren prägen: Hunger, Klimakrise, Nachhaltigkeit.
Russland wartet – und taucht nicht auf
Stellvertretend dafür steht die Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (65). Zig andere Anliegen behandelt er in seiner Rede – Deutschlands Uno-Jubiläum, Uno-Reform, Klimawandel – bevor es am Ende noch kurz um die Ukraine geht: «Russland ist für diesen Krieg verantwortlich.» Das wars.
Die Kriegsmüdigkeit ist Selenskis Achillesferse – und Russland weiss das. Darauf setzt der Aggressor seit Beginn des Krieges: Dass die Alliierten der Ukraine müde werden, keine Lust mehr haben, auf ein diplomatisches Ende drängen. Beinahe demonstrativ tauchte die russische Delegation am Dienstag auch nicht im grossen Uno-Saal auf.