Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat Russlands Krieg gegen sein Land vor der Uno-Vollversammlung als Angriff auf die gesamte Welt dargestellt. «Es geht nicht nur um die Ukraine», sagte der mit einem olivgrünen Polohemd im militärischen Stil bekleidete Staatschef bei der Uno-Generaldebatte New York am Dienstag. «Wenn Hass als Waffe gegen eine Nation eingesetzt wird, dann hört es nie damit auf», mahnte er bei seinem ersten persönlichen Auftritt vor den Vereinten Nationen seit Kriegsbeginn. «In jedem Jahrzehnt zettelt Russland einen neuen Krieg an.» Teile von Moldau und Georgien seien besetzt, Russland habe sich Belarus fast einverleibt, bedrohe Kasachstan, die baltischen Staaten – und die internationale Ordnung.
Auch US-Präsident Joe Biden rief die Weltgemeinschaft angesichts zunehmender Kriegsmüdigkeit auf, der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland beizustehen – nicht zuletzt zum eigenen Schutz. «Die Welt muss der nackten Aggression heute entgegentreten, um andere potenzielle Aggressoren von morgen abzuschrecken.»
«Viele Sitze in der Halle könnten leer werden»
Selenski wurde mit lautem Applaus vom grössten Uno-Gremium begrüsst und sprach auf Englisch. «Viele Sitze in der Halle der Generalversammlung könnten leer werden, wenn Russland mit seinem Verrat und seiner Aggression Erfolg hat», warnte er. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow liess sich im Saal von seinem Vize-Botschafter bei den Vereinten Nationen vertreten, der als politischer Hardliner gilt.
Selenski sagte an die Adresse der Uno-Mitglieder, Moskau greife sein Land nicht nur militärisch an, sondern nutze auch andere Instrumente als Waffen. «Diese Dinge werden nicht nur gegen unser Land eingesetzt, sondern auch gegen Ihres.» Als Beispiel nannte er gestiegene Lebensmittelpreise wegen der russischen Blockade von Getreideexporten. «Die Auswirkungen erstrecken sich von der Atlantikküste Afrikas bis nach Südostasien.» Ebenso nutze Moskau Energie als Waffe, um Regierungen anderer Länder zu schwächen. Selenski rief zur gemeinsamen Abwehr der Gefahr durch Russland auf: «Wir müssen das stoppen.»
Biden: Niemand ist sicher, wenn die Ukraine nicht sicher ist
Biden beschwor den Zusammenhalt der 193 Uno-Mitgliedsländer. «Wenn wir zulassen, dass die Ukraine zerstückelt wird, ist dann die Unabhängigkeit irgendeiner Nation sicher? Die Antwort ist Nein.»
Das grösste diplomatische Treffen der Welt fällt in eine Zeit, in der der Ukraine-Krieg schon seit mehr als eineinhalb Jahren andauert. In manchen Teilen der Welt setzt allmählich Ermüdung ein, was die Unterstützung für Kiew angeht.
Biden warnte davor, sich dem hinzugeben. «Russland glaubt, dass die Welt müde wird und es ihm erlaubt, die Ukraine ohne Konsequenzen brutal zu behandeln.» Wenn internationale Grundprinzipien aber aufgegeben würden, «um einen Aggressor zu beschwichtigen, kann sich dann irgendein Mitgliedstaat sicher fühlen, dass er geschützt ist?» Auch der polnische Präsident Andrzej Duda warnte mit Blick auf den Krieg im Nachbarland: «Heute ist die Ukraine das Opfer. Morgen könnte es jeder von uns sein.»
Selenskis Chance in New York
Selenski sagte in seiner Rede weiter, sein Land habe Beweise, dass Hunderttausende Kinder von Russland aus den besetzten Gebieten der Ukraine verschleppt worden seien. Im Hinblick auf die nukleare Bedrohung durch Moskau sagte er: «Terroristen haben kein Recht, Atomwaffen zu besitzen.»
Im vergangenen Jahr hatte sich Selenski noch per Videoansprache an die Vereinten Nationen gewandt. Diesmal besuchte er direkt nach seiner Ankunft am Montag mitsamt Ehefrau Olena Selenska ein Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Staten Island, in dem verwundete ukrainische Soldaten behandelt werden.
Selenski hatte zuletzt bereits an Gipfeln der G7, Nato und EU teilgenommen. Die Uno-Vollversammlung aber bietet die grösste Bühne und eine Chance für den Ukrainer, skeptische Länder zu überzeugen.
Am Dienstag traf der Ukrainer deswegen auch die einflussreichen Präsidenten William Ruto aus Kenia und Cyril Ramaphosa aus Südafrika zu privaten Gesprächen. Ramaphosa war im Juli auf Einladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem Afrika-Gipfel in St. Petersburg eingeladen gewesen.
Die Sorgen der anderen
Viele Staaten vor allem in Lateinamerika, Afrika und Asien wünschen sich grösseres Augenmerk auf ihre Probleme und auf das eigentlich für die Uno-Woche angepeilte Hauptthema: neue Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Viele der Staats- und Regierungschefs des sogenannten Globalen Südens wünschen sich Frieden in der Ukraine.
Dies zeigt sich prominent in den Vermittlungsversuchen des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. In seiner Rede, die vor allem von den Sorgen der Auswirkungen des Klimawandels geprägt war, pochte Lula auf Friedensgespräche für die Ukraine. Zuletzt hatte er in einem Interview gesagt, der Krieg in der Ukraine ermüde die Menschheit. (SDA)