Ganz Europa rutscht nach rechts. Ganz Europa? Nein, eine nach eigenem Empfinden grossartige Insel an den westlichen Gestaden der Alten Welt tanzt aus der Reihe. «Great Britain» wählt heute ein neues Parlament und bestimmt damit automatisch auch den neuen Regierungschef. Und der ist alles andere als rechts.
Bis um 22 Uhr sind die Wahllokale geöffnet. Klar ist aber schon jetzt: Die konservative Regierung von Milliardärinnen-Gatte Rishi Sunak (44) muss gehen. Neuer Premierminister wird der Chef der linken Arbeitspartei Keir Starmer (61). Der britische «Economist» schätzt seine Wahlchancen auf 97 Prozent. Doch Keir Starmer ist kein «normaler» Linker – im Gegenteil. Seine Pläne für die Insel überraschen.
Wer ist der neue britische Premier Keir Starmer?
Der 61-jährige Londoner hat sich aus einfachsten Verhältnissen ganz nach oben gearbeitet. Der Sohn eines Mechanikers und einer Krankenschwester war der erste in seiner Familie, der an die Uni ging. Er studierte Jus und arbeitete später als angesehener Menschenrechtsanwalt.
Seinen bekanntesten Fall führte er gegen McDonald’s. Starmer verteidigte zwei Aktivisten, die dem Fastfood-Riesen vorgeworfen hatten, Tierquälerei zu betreiben. Starmer gewann in den wichtigsten Punkten. 1998 war er als Berater in die Friedensverhandlungen im blutigen Nordirland-Konflikt involviert und half bei der Ausarbeitung des «Karfreitagsabkommens» mit, das den Konflikt beendete.
2014 schlug ihn das britische Königshaus für seine Verdienste als Jurist zum Ritter. Keir Starmer darf sich offiziell «Sir» schimpfen, tut das aber nie. Seit 2020 ist er Chef der linken Arbeitspartei («Labour Party»). Es ist so gut wie sicher, dass er nach den heutigen Wahlen neuer Regierungschef in Grossbritannien sein wird.
Was hat Keir Starmer mit dem Inselreich vor?
Der sozialdemokratische Politiker will mit seiner Regierung eine «Dekade der nationalen Erneuerung» einläuten und unter anderem 1,5 Millionen neue Wohnhäuser bauen. Zudem will er massiv in erneuerbare Energien investieren (Grossbritannien soll bis 2030 nur noch klimaneutrale Elektrizität produzieren) und neue Öl- und Gasbohrungen in britischen Gewässern verbieten. Er hat angekündigt, Palästina als Staat anzuerkennen und die britische Militärhilfe für die Ukraine weiter voranzutreiben.
Erstaunlich: Der linke Regierungschef will auch beim Thema Migration die Schrauben anziehen. Er will Hunderte zusätzliche Grenzwächter einstellen und Spezialgeräte anschaffen, um den steten Fluss an Migrationsbooten über den Ärmelkanal zu stoppen. Mehr als 13'500 Flüchtlingsboote haben alleine in diesem Jahr versucht, den Kanal zu überqueren.
Kommt Grossbritannien jetzt zurück in die EU?
Nein. Keir Starmer selbst hat 2016 zwar gegen den Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union (Brexit) gestimmt. Er hat aber klargemacht, dass das Anliegen derzeit keine Priorität hat. Eine Rückkehr wäre zudem äusserst kompliziert. Nebst einer Abstimmung in Grossbritannien bräuchte es dazu auch grünes Licht aus jedem einzelnen der 27 EU-Mitgliedsländer.
Was macht der aktuelle Premier Rishi Sunak (44) nach seiner Abwahl?
Der indisch-stämmige konservative Regierungschef liebäugelt laut dem britischen «Guardian» mit einer Rückkehr in die Finanzwelt. Er soll sich bereits nach Büroräumlichkeiten im Londoner Stadtviertel Mayfair umschauen. Auch eine Auszeit mit der Familie in seinem Haus in Santa Monica, Kalifornien, stehe zur Diskussion. Sunak ist mit der Tochter des sechstreichsten Inders verheiratet und hat selbst zwei kleine Töchter.
Der bisherige Premier muss sogar um die Wiederwahl ins britische Parlament fürchten. Er wäre der erste Ex-Regierungschef, der nicht nur aus dem Regierungssitz an der 10 Downing Street, sondern auch gleich aus dem Parlament geschmissen wird.