«Ich gehe zur Essensausgabe, weil ich kein Geld habe»
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Armut in Grossbritannien:«Ich gehe zur Essensausgabe, weil ich kein Geld habe»

Millionen Briten rutschen in Armut ab – Blick im tragischen Königreich
«Heizen oder essen?»

Auf der britischen Insel zeigt sich jetzt schon, was dem Rest Europas erst noch droht. Ohne Essensausgaben würden Hunderttausende Hunger leiden – oder zu Kriminellen werden. Das Land steuert auf eine gewaltige Krise zu. Die Reportage aus dem Königreich der Armen.
Publiziert: 04.09.2022 um 20:48 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2022 um 13:54 Uhr
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Geraint hat sein Obdach verloren und schläft jetzt vor dem Eingang der anglikanischen Kirche in Neath.
Foto: Samuel Schumacher
Samuel Schumacher aus Neath (Grossbritannien)

Steve (54) wäre längst kriminell geworden, wenn es die Essensausgabe nicht gäbe. «Im Gefängnis gibts wenigstens jeden Tag etwas zu essen – und warm ist es auch», sagt der Mann in der walisischen Kleinstadt Neath. Die Sorgenfalten ziehen sich quer über seine massige Stirn. «Wenn im Winter alles noch schlimmer wird, dann werde ich halt zum Dieb», sagt der Vater von fünf Kindern. Er müsse sich jetzt schon jeden Tag entscheiden: «Heating or eating? – Heizen oder Essen?» Für beides reicht das Geld nicht mehr.

«Das ist eine Katastrophe für ein westliches Industrieland»
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Armut in Grossbritannien:«Das ist eine Katastrophe für ein westliches Industrieland»

Mit seinen Sorgen ist Steve nicht allein. Bis Ende 2023 rutschen 14 der 67 Millionen Briten in die Armut ab, schätzt die Denkfabrik Resolution Foundation. Hier in Wales im Westen der britischen Insel wächst bereits jedes dritte Kind in Armut auf. Und die Schlangen vor den Gratis-Essensausgabestellen werden jeden Tag länger. Eine einzige offizielle «Foodbank» gab es im Land vor 20 Jahren. Heute sind es mehr als 1400. Hunderttausende können sich ihr Essen nicht mehr leisten. Die britische Polizei warnt davor, dass Gewaltverbrechen rapide zunehmen werden, weil mehr und mehr verzweifelte Menschen keinen anderen Weg mehr sehen, um an Geld zu kommen.

Viel schlimmer als während der Pandemie

Vicki Rawlinson (80) macht das traurig. Seit elf Jahren hilft die pensionierte Krankenschwester in der Foodbank in Neath im Süden von Wales mit. Zweimal wöchentlich steht sie hier im Keller der Baptisten-Kapelle, sortiert Konservendosen mit Gemüse, packt Spaghetti und Reis in Tüten und reicht sie den wartenden Menschen über den Tresen. «So schlimm wie jetzt war es noch nie – nicht einmal während der Pandemie», sagt Rawlinson. «Ohne uns würde Grossbritannien in diesem Winter auf eine riesige Katastrophe zusteuern. Viele Menschen müssten Hunger leiden – und das im 21. Jahrhundert in einem der reichsten Länder der Welt!»

Viele der Menschen, die vor Vicki Rawlinsons Kapelle stehen, hätten nie gedacht, dass sie jemals hier landen würden.

Da ist Tim Johns (58), der am 19. August seinen Job als Küchengehilfe verloren hat. «Ich habe mir gerade mein erstes Smartphone gekauft. Doch jetzt kann ich mir nicht mal mehr mein Essen leisten», sagt Tim. In der Stube seiner Wohnung hat er schon die dicken Flauschdecken bereitgelegt. Die Temperaturen fallen in Grossbritannien bald – und die Heizkosten sind jetzt schon dreimal höher als noch im letzten Oktober.

Zwei Drittel können Rechnungen nicht mehr bezahlen

Da ist Steve, der bald zum Räuber wird, wenn sich die Situation bis im Winter nicht drastisch ändert.

Da ist die alte Frau, die nicht fotografiert werden will, weil ihr Mann nicht wissen soll, dass sie vor der Foodbank steht, statt im Laden einzukaufen.

Und da ist Geraint (34), der von seinem Vermieter kürzlich auf die Strasse gestellt wurde und jetzt mit nichts als einer Windjacke, seinen Jeans und einer dünnen Decke vor dem Eingang der anglikanischen Kirche von Neath Quartier bezogen hat. In der dürren Hand hält er ein altes Smartphone. Es läuft längst nicht mehr. Geraint nutzt den schwarzen Bildschirm als Spiegel und starrt traurig auf seine eigene Reflexion.

Erst vor kurzem haben Experten Alarm geschlagen. Bis zu zwei Drittel der Briten werden diesen Winter ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Britische Ärzte warnen vor Hirnschäden bei Kindern, die in unterkühlten Wohnungen aufwachsen. Sieben von zehn Foodbanks im Land befürchten, dass sie bald Hilfesuchende wegschicken müssen.

«Birty soll nicht vor seinem ersten Geburtstag frieren müssen»

In Grossbritannien zeigt sich bereits jetzt, was dem Rest Europas erst noch bevorsteht. Die Insel ist drauf und dran, in eine gefährliche Krise abzurutschen. Die Inflation stagniert bei knapp 13 Prozent. Die Strompreise steigen exorbitant – nicht zuletzt wegen der weit überdurchschnittlich hohen Abhängigkeit Grossbritanniens von ausländischem Gas. Und das soziale Netz ist der Krise nicht gewachsen. Seit fünf Jahren ist das «Universal Credit»-System in Gang. Mit einer einzigen monatlichen Zahlung sollen sämtliche staatlichen Hilfeleistungen für alle Bedürftigen gedeckt werden.

Die Zahlungen, kritisieren Beobachter, seien viel zu knapp. Zudem fallen viele während der mehrwöchigen Wartezeit vor der ersten Zahlung in ein Loch. Doch Liz Truss (47), die Nachfolgerin von Premierminister Boris Johnson (58), hat nicht die Absicht, irgendwas am System zu verändern.

Lange gut gehen könne das nicht, sagt Chris Auckland (34). Der Familienvater arbeitet für die anglikanische Kirche in Wales und hilft all jenen Gemeinden, die eine Foodbank aufbauen wollen. Auch er spüre die Krise, sagt der Historiker, und rückt sich die Brille zurecht. Er habe den Supermarkt gewechselt und die Heizung runtergedreht. «Gerade kam mein zweiter Sohn zur Welt. Ich will nicht, dass «Birty» schon vor seinem ersten Geburtstag frieren muss. Doch wie ich das hinkriege, das weiss ich noch nicht.»

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