Die ukrainische Regierung hat Tausende Telefonate von russischen Soldaten abgehört. Die «New York Times» hat nun zahlreiche dieser Mitschnitte veröffentlicht. Die Aufnahmen stammen vom vergangenen März, als die russischen Truppen vor der ukrainischen Hauptstadt Kiew feststeckten.
Die Gespräche der Soldaten mit ihren daheimgebliebenen Frauen, Freundinnen, Freunden und Eltern zeichnen ein Bild der Misere. Es hagelt Kritik an den Fähigkeiten der militärischen Vorgesetzten, sogar der russische Präsident Wladimir Putin (69) wird verflucht. Die Soldaten bemängeln gestörte Lieferketten für ihre Versorgung und erzählen, dass in der Ukraine auch Zivilisten getötet, Häuser und Läden geplündert werden. Zahlreiche von ihnen äussern zudem den Wunsch, den Vertrag mit der Armee zu kündigen oder zu desertieren.
Berichte über tote Zivilisten und Raubzüge
Die Soldaten werden jeweils nur mit dem Vornamen genannt. Die Zeitung zitiert zum Beispiel einen Armeeangehörigen namens Nikita: «Scheisse. Es liegen Leichen auf der Strasse herum. Zivilisten liegen einfach so herum», sagt er zu seiner Freundin. «Es ist total abgef***t.» Im Gespräch mit einem Freund berichtet er von Raubzügen: «Alles war geplündert, verdammt. Der ganze Alkohol wurde versoffen. Und alles Bargeld gestohlen.»
Ein gewisser Sergej sagt zu seiner Mutter: «Mama, dieser Krieg ist die dümmste Entscheidung, die unsere Regierung je getroffen hat.» Auch Soldat Alexander gibt seiner Wut freien Lauf: «Putin ist ein Idiot. Er will Kiew einnehmen. Aber wir werden das niemals schaffen.»
Angehörige berichten von reihenweise Särgen
Nikita, ein Soldat des 656. Regiments der Nationalgarde, erzählt seiner Freundin, 90 Männer um ihn herum seien getötet worden, als sie während der Fahrt in einen Hinterhalt gerieten. Bei einem Anruf von Angehörigen des 331. Luftlande-Regiments schätzt ein Soldat namens Semjon, dass ein Drittel seiner Kameraden getötet wurde. Ein anderer beschreibt Reihen von Särgen mit den Leichen von 400 jungen Fallschirmjägern, die in einem Flughafenhangar auf ihre Heimkehr warteten.
Die Gespräche zeigen zudem, dass die wachsende Zahl der Todesopfer auch in Russland zu spüren ist. Angehörige berichten von reihenweise Särgen, die in ihren Städten ankommen. Eine Frau erzählt ihrem Mann, dass in einer Woche jeden Tag ein Militärbegräbnis stattfand. «Wir beerdigen einen Mann nach dem anderen. Das ist ein Albtraum», wird eine Angehörige zitiert.
«Ich habe noch nie so viele Leichen gesehen»
Im Kiewer Vorort Butscha wurden Anfang April nach dem Abzug der Russen Dutzende Leichen von Zivilisten entdeckt, einige mit gefesselten Händen. Die Bilder davon gingen um die Welt. Moskau weist jede Verantwortung für die Kriegsverbrechen von sich. In den Aufnahmen erzählen einige Soldaten, ihnen sei von Vorgesetzten befohlen worden, Zivilisten zu erschiessen. Ein Soldat namens Sergei sagt seiner Freundin: «Sie haben uns den Befehl gegeben, jeden zu töten, den wir sehen.»
Seiner Mutter erzählt Sergej von einem Wald, in dem er ein «Meer von Leichen in Zivilkleidung» gesehen habe. «Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Leichen gesehen. Es ist einfach total abgef***t. Man kann gar nicht sehen, wo sie aufhören.»
Viele Soldaten äussern den Wunsch, aus der Armee auszutreten. «Ich höre auf, verdammt noch mal.», sagt Wadim zu seiner Freundin. «Ich werde einen zivilen Job annehmen. Und mein Sohn wird auch nicht zur Armee gehen, 100 Prozent.» Alexander hat ebenfalls «die Nase voll von diesem Vertrag». Doch er braucht das Geld: «Wo kann ich sonst so viel Geld verdienen?» Inzwischen hat der russische Gesetzgeber zudem weitere Hürden für Kriegsmüde geschaffen und die Strafen für Desertion, Ungehorsam und Militärdienstverweigerung verschärft. (noo)