«Praktisch die ganze Welt ist gegen uns»: Es waren klare Worte, die Michail Chodarenok, ehemaliger Kommandant der russischen Luftverteidigung, wählte. In einem TV-Auftritt machte Chodarenok auf die schlechte Kriegslage aufmerksam – und widersetzte sich so klar dem russischen Mediengesetz, das die Verbreitung von «Falschnachrichten» mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft.
Die Hiobsbotschaften des erfahrenen Ex-Militärs kommen aber nicht von ungefähr. Bereits am 3. Februar, also vor Beginn des Ukraine-Krieges, zweifelte er am russischen Erfolg. Nicht nur das: Es wirkt beinahe so, als hätte er den gesamten Kriegsverlauf exakt voraussagen können.
In einem Aufsatz, der drei Wochen vor dem Beginn des Krieges publiziert wurde, analysierte er die Behauptungen der russischen Militärelite. So glaubte der Kreml, dass der Krieg in der Ukraine «extrem kurz» sein und «nur wenige Stunden oder Minuten dauern» werde. Grund für die Annahme: Russland werde innert kurzer Zeit die vollständige Lufthoheit erlangen.
«Niemand wird die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen empfangen»
Dass es ganz so einfach ablaufen wird, glaubte Chodarenok schon damals nicht. Er schrieb in seinem Bericht: «Die ukrainischen Flugabwehrraketen haben die russische Luftwaffe während des Konflikts 2008 erheblich geschädigt. Nach dem ersten Tag der Kampfhandlungen war die Führung der russischen Luftwaffe über die erlittenen Verluste geradezu schockiert. Und das sollte nicht vergessen werden.» 2008 marschierten russische Truppe in Georgien ein; Russland behauptete später, die Ukraine habe Georgien sowohl mit Waffen als auch mit Freiwilligen unterstützt.
Während kurz vor der Ukraine-Invasion hochrangige russische Militärs behaupteten, dass «niemand die Ukraine verteidigen werde» und im Gegenteil die Russen als Befreier gefeiert werden würden, war Chodarenok allerdings anderer Meinung. «Das ist in der Praxis eine völlige Unkenntnis der militärischen und politischen Lage und der Stimmung der breiten Masse im Nachbarstaat. Niemand in der Ukraine wird die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen empfangen.»
Unterstützung durch den Westen unterschätzt
Auch seien die ukrainischen Streitkräfte gar nicht in so schlechter Verfassung, wie gerne seitens der Russen behauptet wird. «Zweifellos ist die ukrainische Armee heute den Streitkräften Russlands in ihren Kampf- und Einsatzfähigkeiten erheblich unterlegen. Daran zweifelt niemand – weder im Osten noch im Westen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns immer an das Gebot von Alexander Suworow erinnern: ‹Verachte niemals deinen Feind, halte ihn nicht für dumm und schwächer als dich›». Suworow (1730–1800) war ein bekannter russischer Kriegsstratege und wird bis heute geehrt.
Zudem werde, so Chodarenok, die Ukraine vom Westen unterstützt – was Russland nicht von sich behaupten kann. «Der Zustrom von Freiwilligen aus dem Westen, von denen es viele geben könnte, kann nicht ausgeschlossen werden.»
Zwar werde die Nato – oder generell der Westen – keine Soldaten versenden, doch werde man die Ukraine «mit den verschiedensten Waffen, militärischen Ausrüstungsgegenständen und umfangreichen Lieferungen von Material aller Art massiv unterstützen». Auch hier sollte er recht behalten.
Militärexperte krebst im Staatsfernsehen zurück
Die Warnung wurde von der russischen Politik ignoriert. Bis heute möchte man Chodarenok nicht anhören. Nach seinem ersten Auftritt in der russischen Sendung «60 Minuten», bei der er kein Blatt vor den Mund nahm, durfte er zwar nochmals auftreten.
Doch wo noch am Sonntag von einer «Verschlechterung der Lage», einer «völligen Isolation Russlands» und einem allgemeinen Zweifel an der russischen Mobilmachung die Rede war, sprach er am Dienstag von einer «klar unterlegenen Ukraine», einer «bösen Überraschung für die Verteidiger» und einem «klaren Sieg» für die russischen Streitkräfte.
Der BBC-Journalist Francis Scarr, der sich mit russischem Staatsfernsehen befasst, schrieb dazu auf Twitter: «Es scheint so, als habe ihm jemand eine Standpauke gehalten.» (chs)