Lampedusa versinkt im Chaos. Der Grund: Die Rekordzahl an Flüchtlingen, die in den vergangenen Tagen auf Lampedusa ankamen – mehr als 7000 innerhalb von nur 48 Stunden, so offizielle Zahlen vom Freitag. Bürgermeister Filippo Mannino (40) hat den Notstand ausgerufen, die lokale Bevölkerung warnt vor einem Kollaps. Die wichtigsten Antworten zur aktuellen Ausnahmesituation.
Was passiert gerade auf Lampedusa?
Auf der italienischen Insel Lampedusa treffen aktuell Tausende Geflüchtete ein – hauptsächlich von Tunesien her kommend. Dadurch hat sich die Bevölkerung der Insel kurzerhand verdoppelt. «Die Situation ist tragisch, dramatisch, apokalyptisch», so Bürgermeister Mannino.
Das Aufnahmezentrum in Lampedusa ist für weniger als 400 Personen ausgelegt. Im Hotspot von Lampedusa befanden sich Donnerstagmorgen über 6000 Menschen, darunter auch viele Familien mit Minderjährigen.
Wie schlimm ist die Situation?
Das alles klingt sehr dramatisch. Dazu kommen die Bilder auf den sozialen Medien von Menschenmassen am Strand, in den Ortschaften. Es kann leicht der Eindruck entstehen, dass die aktuelle Situation besonders schlimm ist. Zur Erinnerung: Seit Jahresbeginn sind laut Hilfsorganisationen bereits über 2000 Personen bei der Überquerung des Mittelmeers gestorben.
Die Lage in Lampedusa ist laut dem Sprecher der Internationalen Organisation für Migration für Italien, Flavio Di Giacomo, durchaus vergleichbar mit der grossen Flüchtlingskrise von 2015 und 2016, wie er gegenüber «Watson.de» erklärt. Damals erreichen rund 9440 Flüchtlinge innert kürzester Zeit die italienische Insel.
Nicht zu vergleichen ist die Situation allerdings mit anderen europäischen Migrationskrisen. Im Jahr 2015 erreichten laut der Uno über eine halbe Million Migranten das griechische Festland und die umliegenden Inseln. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 erreichten Hunderttausende ukrainische Flüchtlinge Westeuropa.
Zudem gilt zu betonen, dass zwar aktuell viele Flüchtlinge auf Lampedusa ankommen, es zuvor aber laut Behörden auch wochenlang keine Ankünfte gab. Es handelt sich somit um einen akuten Notfall, nicht um einen neuen Status quo.
Warum passiert das ausgerechnet auf Lampedusa?
Lampedusa ist ein beliebes Ziel der Schleppernetzwerke in Tunesien und Libyen. Denn laut Experte Di Giacomo ist die Insel in acht bis zehn Stunden via Boot erreichbar. Aufgrund der Regierungskrise in Tunesien sei Italien zum ersten Mal das Ausreiseland Nummer eins für die Flüchtenden.
Und: Früher konnte man mit einer einzigen Rettung eines grossen Bootes aus Libyen 250 Menschen retten, heute fahren viele «Miniboote» von Tunesien aus. «Um 250 Menschen zu retten, braucht man fünf bis sechs Rettungsaktionen. Alles ist operativ viel komplizierter», so Di Giacomo.
Wie reagiert die italienische Regierung?
Für die rechte Regierung der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (46) sind die Flüchtlingsankünfte ein Problem. Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen kommt sie massiv unter Druck – umso mehr, weil ihre Partei Fratelli d’Italia mit dem Versprechen angetreten war, effizient gegen die illegale Immigration aus Afrika vorzugehen.
Laut offiziellen Zahlen sind seit Jahresanfang rund 124'000 Migranten an Italiens Küsten gelandet – doppelt so viele wie im Vorjahr. Knapp 85'000 von ihnen gingen mit eigenen Booten an Land, während 39'000 von den Rettungskräften aufgegriffen wurden. Meloni hat ihr Wahlversprechen bis dato also nicht einhalten können.
Wie reagiert Europa?
Auf die aktuelle Krise auf Lampedusa hat Europa noch nicht reagiert. Kurz bevor es aber zur Ausnahmesituation auf der italienischen Insel gekommen war, haben mehrere europäische Staaten ihre Flüchtlingsabkommen mit Italien gestoppt.
Deutschland hat ein Programm zur freiwilligen Aufnahme von Migranten aus Italien ausgesetzt. Die Bundesregierung hatte zugesagt, 3500 Asylsuchende zu übernehmen. Diese Aufnahmen wurden gestoppt, da sich Italien seit Ende 2022 bei Rückübernahmen nach dem Dublin-Verfahren querstellt. Auch Frankreich hat die Aufnahmen gestoppt und sogar die Aufrüstung der französisch-italienischen Grenze verkündet.
Vize-Ministerpräsident und Lega-Chef Matteo Salvini (50) bezeichnet diese Entscheidung am Mittwochabend als «Kriegsakt»: «Ich glaube, dass hinter den Landungen ein organisiertes kriminelles System steht, auf das wir mit allen verfügbaren Mitteln reagieren müssen. Wir werden in der Regierung darüber sprechen müssen.»
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (64) noch an diesem Samstag nach Italien reisen. In Rom treffe sie zunächst Regierungschefin Meloni, sagte ein Sprecher von der Leyens am Vormittag am Rande einer Veranstaltung in Hanau der Deutschen Presse-Agentur. Meloni und von der Leyen wollten dann zusammen Lampedusa besuchen, sagte der Sprecher.
Was bedeutet das für die Schweiz?
Die Krise auf Lampedusa wird sich vorerst nicht auf die Schweiz auswirken. Das Staatssekretariat für Migration SEM teilt gegenüber «20 Minuten» mit: «Von Januar bis August landeten in Italien etwa 13’000 Guineer und etwa 12’500 Staatsbürger der Côte d’Ivoire an. Die Asylgesuche in der Schweiz von Personen aus diesen zwei Ländern im gleichen Zeitraum beziffern sich jedoch insgesamt auf lediglich rund 350.»
Zudem steht keines der wichtigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden in der Schweiz, wie etwa Türkei, Afghanistan, Eritrea, Algerien und Marokko, auf der Liste der Top-10-Nationen der in Süditalien angelandeten Migranten.