Mit der Machtübernahme der Taliban innert nur zehn Tagen ist klar: Der Westen hat mit seiner Intervention in Afghanistan versagt. Die ganzen 20 Jahre Aufwand, die Zehntausenden von Opfern und die investierten Billionen von Dollar waren für die Katz.
Einige Zahlen der 20 Jahre dauernden Mission: Auf dem Höhepunkt des Truppenaufbaus im Juli 2011 waren 132'457 Soldatinnen und Soldaten der International Security Assistance Force (Isaf) aus fast 40 Ländern in Afghanistan stationiert. Dazu kamen teilweise ebenso viele Kräfte, die im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) als Reaktion auf 9/11 Terroristen von Al Kaida und den Taliban jagten. Weiter waren teilweise bis zu 25'000 Mitglieder von privaten Sicherheitsfirmen im Land.
Insgesamt starben rund 3600 Nato-Angehörige. Bei der afghanischen Armee und Polizei beklagt man rund 59'000 Tote. Gewaltig auch die Zahl der zivilen Opfer: In den vergangenen zehn Jahren starben jährlich rund 3000 Menschen durch Kampfhandlungen.
Zu blauäugig
Die Ziele der Nato waren hehr. Sie formulierte sie mit der «Entstehung eines sicheren und stabilen Afghanistans, das sich auf eine breite, geschlechter-sensitive, multi-ethnische und parlamentarisch legitimierte Regierung abstützt».
Doch dieses Ziel war wohl schlicht zu blauäugig. Westliche Werte lassen sich nicht einfach exportieren, wie schon die früheren, verheerenden Einsätze etwa in Vietnam, im Irak oder auf Kuba zeigten.
In Afghanistan gibt es 19 Volksgruppen, die gegen 50 Sprachen sprechen. All diese Interessen unter einen Hut zu bringen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Viele Afghanen arrangieren sich oder laufen zum Gegner über, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Das hat man bei den Regierungstruppen gesehen, die sich von den Taliban praktisch ohne Widerstand überrennen liessen.
Präsident geflohen
Die westlichen Staaten haben geglaubt, es reiche aus, afghanische Soldaten auszubilden und ihnen moderne Waffen und Transportmittel zur Verfügung zu stellen. Sie haben ignoriert, dass die Bevölkerung kein Vertrauen in die vom Westen unterstützte korrupte Zentralregierung hatte und diese bei einem Abzug niemals unterstützen würde.
Was der seit 2014 amtierende Präsident Aschraf Ghani (72) taugt, hat man beim Sturm der Taliban gesehen: Er ist ins Ausland geflohen – offenbar nach Tadschikistan oder Usbekistan – und hat seine Ministerkollegen ihrem Schicksal unter den Taliban überlassen.
Trump poltert gegen Biden
Wer trägt die Schuld am Desaster? Vor dem Weissen Haus marschieren Hunderte Menschen auf und skandierten «Befreit Afghanistan» und «Schäm dich Biden». Joe Bidens (78) Vorgänger Donald Trump (75) schimpfte über den «verpfuschten» Rückzug und forderte Bidens «Rücktritt in Schande».
Biden hat eigentlich vollzogen, was das amerikanische Volk forderte und schon Barack Obama (60) angekündigt und Donald Trump eingeleitet hatte: den Rückzug aus dem verlustreichen und teuren Einsatz, der auf Präsident George W. Bush (75) zurückgeht. Hätte Biden damit noch fünf Jahre zugewartet, wären der Sturz der Regierung sowie die Machtübernahme durch die Taliban wohl einfach fünf Jahre später passiert.
Überstürzter Abzug
Man muss sowohl Trump als auch Biden schwere Fehler anlasten. Trump hatte mit den Taliban einen Friedensplan abgeschlossen, ohne die Zentralregierung in Kabul miteinzubeziehen. Das gab den Islamisten Auftrieb.
Biden seinerseits führte den Abzug überstürzt und ohne richtige Absprache mit den Verbündeten aus, dazu noch wenige Wochen vor dem symbolträchtigen 20. Jahrestag des Attentats vom 11. September 2001 in New York. Es gab nicht einmal einen Rettungsplan für die vielen Afghaninnen und Afghanen, welche die westlichen Truppen 20 Jahre lang mit Informationen über den Gegner beliefert oder sonst unterstützt hatten. Sie müssen nun mit dem Schlimmsten rechnen.
In den 20 Jahren ist den Truppen der Isaf mit enormem Aufwand nur eines gelungen: den Deckel auf einem gärenden Tank zu halten. Jetzt, nachdem die ausländischen Truppen weg sind, explodiert das Pulverfass.