«Für eine Union, die mehr erreichen will», prangt am Brüsseler EU-Kommissions-Gebäude, in dem die neue Präsidentin der Europäischen Kommission nicht nur ihr Büro hat, sondern praktischerweise auch ihr Apartment.
Mehr Europa, digitaler, grüner - die 61 Jahre alte konservative deutsche Politikerin ist am 1. Dezember im Turbo in ihre Amtszeit gestartet und hat seither erstaunlich viel von dem angestossen, was sie sich für die ersten 100 Tage vorgenommen hatte. Verblüffenderweise hat sie sogar einige einst beinharte Kritiker für sich eingenommen.
Probleme an der Spitze
Und doch lief bei weitem nicht alles rund für die erste Frau an der Spitze der Brüsseler Machtzentrale. Die EU läuft schon wieder im Krisenmodus, getrieben von Machtpolitikern und Militärs in Libyen, Syrien, der Türkei und von einem rätselhaften Virus namens Sars-CoV-2.
Am Tisch mit Greta
Das zeigte sich im Verlauf dieser Woche, in der von der Leyen feierlich das Klimagesetz präsentieren wollte, das Herzstück ihres «Green Deal» gegen die globale Erwärmung, ihr grosses Projekt.
Dafür hatte sie eigens die schwedische Aktivistin Greta Thunberg nach Brüssel geladen. Doch dann dominierten ganz andere Bilder - martialische und tragische Szenen von der griechischen Grenze zur Türkei, wo Tausende Menschen auf Zutritt zur Europäischen Union hofften.
Präsenz in der Flüchtlingskrise
Also eilte von der Leyen mit Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli an den Ort des Geschehens, kreiste im Helikopter über Feldern, Wiesen und Stacheldraht, sicherte Griechenland Solidarität zu, vermied jeden Hauch von Kritik an der Abwehr der Gestrandeten - Symbolpolitik in einem Dilemma, das die EU seit 2015 nicht löst: Wie umgehen mit den Flüchtlingen und Migranten, die in Europa Schutz oder ein besseres Leben suchen?
Der endlose Asylstreit ist nur eine der Altlasten, die von der Leyen von ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker übernommen hat und die ihr bei der eigenen Agenda in die Quere kommen.
Brexit-Krieg verhindern
Das Vereinigte Königreich musste sie am Brexit-Tag Ende Januar aus der EU verabschieden und nun muss sie verhindern, dass die Scheidung zum Rosenkrieg ausartet.
Im Haushaltsstreit der EU-Länder kann sie nach einem gescheiterten Sondergipfel Ende Februar nur auf ein rasches und gutes Ende hoffen, sonst sind ihr von Anfang nächsten Jahres an finanziell die Hände gebunden. Und dass sich die EU bei den Eurozonen-Reformen im Kleinklein verhedderte, könnte sich bei einem Abschwung wegen Covid-19 noch rächen.
Von der Leyen hat die Gabe, die Schwierigkeiten eisern wegzulächeln. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos, so erzählte sie es vor Unternehmern diese Woche, habe ein Teilnehmer sie gefragt: «Wollen wir, dass Europa ein globaler Spieler ist oder ein Spielplatz für andere?» Die Antwort liegt für von der Leyen auf der Hand. «Nach den ersten 100 Tagen, das kann ich Ihnen sagen, habe ich ein entschlossenes Europa gesehen», beteuerte sie.
Das passt zu ihrer Ansage, sie wolle eine «geopolitische Kommission» und ein Europa, das «die Sprache der Macht» erlerne. Entschlossenheit bedeutet allerdings nicht unbedingt Wirkung.
Schwierige 100 Tage
Erst stand die Kommission hilflos vor den Wirren nach dem US-Raketenangriff auf den iranischen General Ghassem Soleimani im Irak, dann vor der Zuspitzung in Libyen, dann vor dem Zerfall der Atomvereinbarung mit dem Iran, vor der Schlacht um Idlib in Syrien, die Hunderttausendende in die Flucht trieb. Auch all das fiel in die ersten 100 Tage dieser «geopolitischen Kommission».
EU-Politiker Jens Geier gibt der Kommissionspräsidentin für ihren Start insgesamt eine Vier - ausreichend. Der Chef der sozialdemokratischen Abgeordneten im EU-Parlament sagt das allerdings wie ein Deutschlehrer, der findet, dass eine Vier eigentlich eine passable Note ist.
Der Green Deal, die geplanten Strategien für die Kreislaufwirtschaft und die Industrie, Ansätze eines gemeinsamen Rahmens für Mindestlöhne, das verbucht Geier alles auf von der Leyens Habenseite und lässt sich schliesslich entlocken: «Sie macht das ordentlich.»
Respekt für von der Leyen
Das ist insofern bemerkenswert, als Geier im Sommer 2019 nach von der Leyens Nominierung einer der schärfsten Kritiker war und gemeinsam mit seinen Parteikollegen geschlossen gegen sie stimmte. Das sei nie etwas Persönliches gewesen, betont er heute, das Hindernis sei gewesen, dass von der Leyen keine Spitzenkandidatin in der Europawahl war. Ähnlich äussern sich heute übrigens führende Grüne, die von der Leyen damals ebenfalls für unwählbar erklärten.
Von der Leyen hat sich also Respekt verschafft und viele mit ihrem Enthusiasmus angesteckt. Sie hat jedoch im Maschinenraum ihrer Behörde auch für vernehmbares Ächzen und Stöhnen gesorgt.
Das Tempo, mit dem sie in den ersten zehn Tagen ihren Green Deal aus dem Boden gestampft hat, lässt manche Mitarbeiter heute noch schaudern.
Von anfänglichem «Chaos» ist die Rede, von unklaren Zuständigkeiten und Reibereien zwischen den mächtigen Vizepräsidenten der Kommission und einigen Kommissaren. Alle neu, alle unter Volldampf. Und alle unter einer Präsidentin, die «mehr erreichen will». (SDA)
In der Schweiz spielt sich Erstaunliches ab. Die Wahl einer Politikerin im Ausland beschäftigt die hiesige Öffentlichkeit gerade in beispiellosem Masse.
Am Dienstag ist die Deutsche Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission gekürt worden. Seither treibt eine Frage die Eidgenossen um: Was heisst das für uns?
Eifrig werden politische Ferndiagnosen über die CDU-Frau erstellt. Für Schweizer Sonderwünsche dürfte sie «nicht unbedingt offene Ohren haben», vermutet der «Tages-Anzeiger». Die «NZZ» wittert einen Ausweg aus Europas «demokratiepolitischer Blockade». Die «Weltwoche» ortet «Grossmachtfantasien». Der SonntagsBlick hat mit zwei Biografen von «vdL» geredet.
Die Reaktionen verraten eine verdrängte Tatsache: Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist nicht der oberste Sozialdemokrat aus Bulle FR. Auch nicht der Bundespräsident aus Hinwil ZH oder der alt Bundesrat aus Herrliberg ZH.
Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist eine in Brüssel geborene Niedersächsin, die ab Herbst der Exekutive der EU vorsteht.
Das liegt nicht nur am Rahmenabkommen. Oder an den 120 bilateralen Verträgen. Oder am autonomen Nachvollzug, der uns de facto zum Passivmitglied der Europäischen Union macht.
Entscheidend ist: Die Schweiz gedeiht nur, wenn die EU gedeiht. Dass die Europäische Union gedeiht, ist der Job von «vdL». Das macht sie auch ein bisschen zu unserer Präsidentin. Reza Rafi
In der Schweiz spielt sich Erstaunliches ab. Die Wahl einer Politikerin im Ausland beschäftigt die hiesige Öffentlichkeit gerade in beispiellosem Masse.
Am Dienstag ist die Deutsche Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission gekürt worden. Seither treibt eine Frage die Eidgenossen um: Was heisst das für uns?
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Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist eine in Brüssel geborene Niedersächsin, die ab Herbst der Exekutive der EU vorsteht.
Das liegt nicht nur am Rahmenabkommen. Oder an den 120 bilateralen Verträgen. Oder am autonomen Nachvollzug, der uns de facto zum Passivmitglied der Europäischen Union macht.
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