Zum ersten Mal seit ihrer Gründungsgeschichte steht eine Frau an der Spitze der Europäischen Union: Ursula von der Leyen, bisher deutsche Verteidigungsministerin, tritt ab November ihr neues Amt als Präsidentin der Europäischen Kommission an. Mit einer knappen Mehrheit (383 von 751 Stimmen) wurde sie in das höchste Amt Europas gewählt.
Damit ist von der Leyen, kurz «vdL», künftig die wichtigste Verhandlungspartnerin der Schweiz. Da liegt die Frage auf der Hand: Was bedeutet das für uns? Die neu Gewählte hält sich bedeckt. Einen starken Bezug zur Schweiz hat sie aber: Eine ihrer Töchter studiert hier, wie ihr Biograf Daniel Goffart gegenüber SonntagsBlick bestätigt.
Dass «vdL» im Umgang mit der Eidgenossenschaft von der Linie ihres Vorgängers Jean-Claude Juncker (64) abweichen wird, bezweifeln viele. Goffart ist überzeugt: «Sie wird einem für die EU so wichtigen Staat wie der Schweiz offen begegnen.»
Sie sei – «ähnlich wie die Bundeskanzlerin» – eine pragmatisch denkende Politikerin. Mit vergleichbarer Energie und Ausdauer gehe sie auch an Verhandlungen heran, so Goffart.
Vom Studienabbruch zur Doktoratur
Ihr Lebenslauf ist imposant: Tochter eines Ministerpräsidenten, promovierte Ärztin, Mutter von sieben Kindern, profilierte Politikerin, die schon etliche Skandale ausgestanden hat – und nebenbei auch noch erfahrene Dressurreiterin.
Die Biografin Elisabeth Niejahr scheint in ihrem Bann zu stehen: «Von der Leyen hat ein ausgeprägtes Arbeitsethos und ist sehr streng mit sich.» Niejahr lobt auch ihren Durchsetzungswillen. Mit ihrem männlichen Kollegen Goffart weiss sie sich einig: Von der Leyen war für das höchste Amt Europas prädestiniert – Töne, die man von Journalisten selten über Politiker vernimmt – offenbar kann «vdL» Menschen für sich gewinnen.
Bereits ihr Vater, der CDU-Politiker Ernst Albrecht (1930–2014), war vor seiner Zeit als Landesvater von Niedersachsen als Diplomat tätig. Geboren und aufgewachsen in Brüssel, lebte von der Leyen bis zum 14. Lebensjahr am Sitz von Europas wichtigsten Institutionen. Nach dem Abitur brach sie ein Studium der Archäologie, dann eines der Volkswirtschaft an der deutschen Uni Göttingen ab.
In einem Interview mit der «Zeit» räumte sie ein, damals «deutlich mehr gelebt als studiert» zu haben – unter anderem ein Jahr in London unter dem falschen Namen «Rose Ladson». Als Tochter eines Spitzenpolitikers waren die Zeiten des RAF-Terrors in den 70er- und 80er-Jahren für sie extrem gefährlich.
VdL führte Frauenquote in Deutschland ein
Mit dem Medizinstudium klappte es dann – in mehrfacher Hinsicht: Dabei lernte sie auch ihren späteren Mann kennen, den Arzt Heiko von der Leyen (64), den sie 1986 heiratete.
Dunkle Wolken zogen erst 2016 auf, als sie des Plagiats beschuldigt wurde. Ihren Doktortitel von 1991 durfte sie behalten. Die Uni Hannover habe Fehler festgestellt, aber kein Fehlverhalten. Als Familienministerin setzte sie sich an der Seite der Bundeskanzlerin für den neuen Kurs der CDU und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein. Als Arbeitsministerin führte sie eine Frauenquote in deutschen Aufsichtsräten ein.
Als potenzielle Merkel-Nachfolgerin sollte sie schliesslich noch den riskantesten Job meistern, den die Kanzlerin zu vergeben hatte: das Verteidigungsministerium. «Da ist sie ins Straucheln geraten», so ihr Biograf.
Überzeugte Europäerin
Die Wahl zur Präsidentin der EU-Kommission stelle für von der Leyen eine glückliche Wendung dar. Goffart: «Damit kann sie ihre politische Karriere krönen.»
Wie von der Leyen Europa lenken möchte, kündigte sie in der wohl wichtigsten Rede ihrer Karriere auf Französisch, Deutsch und Englisch an: Jeder, der Europa schaden oder spalten wolle, habe in ihr eine entschiedene Gegnerin.
Was sie von Populisten wie dem britischen Abgeordneten Farage hält, der ihr vorwarf, «eine zentralisierte, undemokratische und aktualisierte Form des Kommunismus» verwirklichen zu wollen, zeigte sie, indem sie ihn in die Schranken wies: «Reden wie die Ihre, Mister Farage, auf die können wir weiss Gott verzichten!»
In der Schweiz spielt sich Erstaunliches ab. Die Wahl einer Politikerin im Ausland beschäftigt die hiesige Öffentlichkeit gerade in beispiellosem Masse.
Am Dienstag ist die Deutsche Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission gekürt worden. Seither treibt eine Frage die Eidgenossen um: Was heisst das für uns?
Eifrig werden politische Ferndiagnosen über die CDU-Frau erstellt. Für Schweizer Sonderwünsche dürfte sie «nicht unbedingt offene Ohren haben», vermutet der «Tages-Anzeiger». Die «NZZ» wittert einen Ausweg aus Europas «demokratiepolitischer Blockade». Die «Weltwoche» ortet «Grossmachtfantasien». Der SonntagsBlick hat mit zwei Biografen von «vdL» geredet.
Die Reaktionen verraten eine verdrängte Tatsache: Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist nicht der oberste Sozialdemokrat aus Bulle FR. Auch nicht der Bundespräsident aus Hinwil ZH oder der alt Bundesrat aus Herrliberg ZH.
Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist eine in Brüssel geborene Niedersächsin, die ab Herbst der Exekutive der EU vorsteht.
Das liegt nicht nur am Rahmenabkommen. Oder an den 120 bilateralen Verträgen. Oder am autonomen Nachvollzug, der uns de facto zum Passivmitglied der Europäischen Union macht.
Entscheidend ist: Die Schweiz gedeiht nur, wenn die EU gedeiht. Dass die Europäische Union gedeiht, ist der Job von «vdL». Das macht sie auch ein bisschen zu unserer Präsidentin. Reza Rafi
In der Schweiz spielt sich Erstaunliches ab. Die Wahl einer Politikerin im Ausland beschäftigt die hiesige Öffentlichkeit gerade in beispiellosem Masse.
Am Dienstag ist die Deutsche Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission gekürt worden. Seither treibt eine Frage die Eidgenossen um: Was heisst das für uns?
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Die Reaktionen verraten eine verdrängte Tatsache: Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist nicht der oberste Sozialdemokrat aus Bulle FR. Auch nicht der Bundespräsident aus Hinwil ZH oder der alt Bundesrat aus Herrliberg ZH.
Die mächtigste Person der schweizerischen Politik ist eine in Brüssel geborene Niedersächsin, die ab Herbst der Exekutive der EU vorsteht.
Das liegt nicht nur am Rahmenabkommen. Oder an den 120 bilateralen Verträgen. Oder am autonomen Nachvollzug, der uns de facto zum Passivmitglied der Europäischen Union macht.
Entscheidend ist: Die Schweiz gedeiht nur, wenn die EU gedeiht. Dass die Europäische Union gedeiht, ist der Job von «vdL». Das macht sie auch ein bisschen zu unserer Präsidentin. Reza Rafi